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CHURCH
OF FEAR'S »3.
Internationaler Pfahlsitzwettbewerb«
Tag 5: Stummen Stimmen geben
Gäste:
Bazon Brock, Martin Büsser, Danièle Perrier und Daniel
Cohn-Bendit sowie Theodor W. Adorno (posthum)
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Um 8.30 Uhr betritt Eva Zander nach kurzer Nacht die Frankfurter
Hauptwache. Die erwachten oder immer noch wachen Pfahlsitzer spenden
der COF-Präsidentin müden,
aber gut gemeinten Applaus. Den Teilnehmern ist sie längst
schon zu einer Art Ersatzmutter geworden. Nachdem sie jeden Säulenheiligen
persönlich begrüßt hatte, servierte sie Kaffee und
frisch belegte Brötchen, die Claudia und Katrin in der COF-Küche
zubereitet hatten. Dann absolviert sie gemeinsam mit einem Frankfurter
Amtsarzt die morgenliche Visite. Harald Rey, Pfahl Nr.1 sah sich
an diesem Morgen am Rande seiner Reserven angekommen: "Den
Zeiten zufolge habe ich keine Chance mehr auf den Gesamtsieg. Für
mich selbst aber kann ich immer noch gewinnen. Also durchhalten!"
Nina Krämer, Pfahl Nr.2, die wegen ihres nach wie vor frischen
Aussehens vielen zur Favoritin erwachsen ist, war selig: "Ich
habe zum ersten Mal die komplette Nacht durchgeschlafen!" Dementsprechen
ging sie hoch motiviert in den letzten vollen Tag des Wettbewerbs.
Hans-Jürgen Kuprasch, Pfahl Nr.3, bat um 9.30 Uhr eine COF-Betreuerin,
ihm im Kaufhof gegenüber neuen Lesestoff zu kaufen - die FAZ,
die Frankfurter Rundschau und die rororo-Wagnermonographie. "Mein
Pfahl steht ideal. Ich habe alle Konkurrenten jederzeit im Blick
und mache mir über ihre Gesundheitszustände so meine Gedanken."
Ähnlich äußerte sich Björn Saragosa, Pfahl
Nr.4, über Susie Renée Reinhardt auf dem Nachbarpfahl
Nr.5: "Susanne hat seit Montag kaum geschlafen und nimmt nicht
mal Wasser zu sich. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie
meinen Sieg gefährdet." Frau Reinhardt aber hielt dagegen:
"Noch führe ich mit knapp zwei Minuten Vorsprung. Wenn
alles gut geht, sitze ich jetzt bis Samstag um 14.00 Uhr durch."
Klaus Thönes, Pfahl Nr.6, plagte an diesem Morgen ein heftiger
Sonnenbrand, der den Amtsarzt ein zweites Mal auf den Plan rief:
"Mir brennt der Kopf, innen und außen. Das hat mich die
ganze Nacht wach gehalten." Thomas Stefan Herpich, Pfahl Nr.7
und einziger Wettbewerbsteilnehmer mit festem Einkommen, führte
per Handy aufgeregte Telefonate: "Seit meinem Pfahlseminar
am Dienstag habe ich 7 oder 8 Anfragen für neue Vorträge
bekommen. Der Laden brummt!" Von den Beschimpfungen, denen
die Pfahlsitzer tagsüber ausgesetzt sind, fühlt sich der
Coach für Kreativität und gewaltfreie Kommunikation nicht
angesprochen: "Auch gestern liefen hier Gestalten umher, die
rumpöbelten und uns Pfahlsitzer als faule Schweine und Arbeitslosenpack
beschimpften. Mich läßt das kalt, aber für die anderen
sechs tuts mir echt leid."
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Um 10.00 Uhr begrüßte Kirchenmitglied Schlingensief
die 7 Pfahlsitzer mit dem aufmunternden "Always look on the
bright side of life". Anschließend griff er zum Mikrofon
und rief an diesem Tag erstmals zum Kauf von Arbeits-Losen auf:
"Kaufen Sie jetzt noch die letzten Lose! Heute um 21.00 Uhr
schließt das Wettbüro der CHURCH
OF FEAR, um die Gewinnausschüttung am morgigen Samstag
vorzubereiten." Bis zum Freitagmorgen waren bereits über
5000 Lose verkauft worden. In eine Bürgerdiskussion zum Thema
"Angstreform" hinein starteten Mitarbeiter des Ordnungsamtes
der Stadt Frankfurt einen weiteren Versuch, den DRITTEN
INTERNATIONALEN PFAHLSITZWETTBEWERBES und die damit verbundene
Möglichkeit für alle Besucher, sich zu ihren Ängsten
zu bekennen, zu untergraben. Sie stellten der Veranstaltung, die
seit Montagmorgen schon mehr als 80.000 Menschen an die Hauptwache
gelockt hatte, kurzerhand den Strom ab. Schlingensief und Oberstaatsanwalt
a.D. Dietrich Kuhlbrodt protestierten gegen das rüde Vorgehen.
Björn Saragosa auf Pfahl Nr.4 wollte in einem der Amtsherren
sogar einen Mann wieder erkennen, der ihn vor zwei Monaten auf offener
Straße zusammen geschlagen hatte. So war die Atmosphäre
auch zu dieser Stunde schon wieder arg gereizt. "Seitens des
Ordnungsamtes ist Ihnen eine Lautstärke von maximal 65 Dezibel
behördlich zugesagt worden", begründete ein Ordnungsamtmann
die Attacke. "Zivilbeamte haben bereits mehrmals Dezibelzahlen
um die 80 gemessen. Damit ist jetzt Schluß!" Auf Buh-
und Zwischenrufe der mehr als 700 Wettbewerbsbesucher reagierte
der Wortführer beschwichtigend: "Wir sind hier zum Wohle
und Schutze der Frankfurter Bürger." Ein eben solcher
Bürger, der kurz vor dem amtlich verordneten Verstummen der
Veranstaltung um das Mikrofon gebeten hatte, um über Alltagsängste
zu referieren, empörte sich daraufhin nochmal so sehr: "Ich
bin Bürger dieser Stadt und Sie schneiden mir das Wort ab.
Nennen Sie das etwa Bürgerschutz?" Auf Pfahl Nr.3 schaltete
sich Hans-Jürgen Kuprasch, ebenfalls gebürtiger Frankfurter,
in den Streit ein: "Ich merke hier zum ersten Mal, daß
sich jemand um mein Wohl und meinen Schutz bemüht. Und dieser
Jemand ist die CHURCH OF FEAR!"
Im Namen der CHURCH OF FEAR
legte COF-Präsidentin Eva Zander, die sich trotz der prekären
Situation am Vorabend in bester Laune präsentierte, unverzüglich
Widerspruch gegen die "abstrusen Maßnahmen der staatlichen
Angstverwalter" ein. Schlingensief dankte den Anwesenden für
ihren beherzten Widerstand: "Sie haben verstanden, Sie haben
sich nicht von Uniformen und Amtsdeutsch einschüchtern lassen.
Sie verwalten sich ab sofort selbst!" Zu Muezzingesängen
bei 65 Dezibel zogen sich die Mitarbeiter des Ordnungsamtes gegen
13.10 Uhr zurück, kündigten aber eine baldige Rückkehr
an: "Dann aber mit Verstärkung", drohte der Wortführer
und stieg in den Dienstmercedes.
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Aufgrund
des Besuches von Kunsttheoretiker Bazon Brock wurde die Gründung
neuer COF-Gemeinden auf 14.00
Uhr vorgezogen. Eine für 15.00 Uhr angedachte Prozession zum
Hauptsitz der Deutschen Bank wurde aus Zeitgründen abgeblasen:
"Diese Mission übergeben wir in die vertrauenswürdigen
Hände der COF-Gemeinde Frankfurt-Gallus."
Im 2. Prototypen einer ANGSTKIRCHE nahmen Schlingensief und Frau Zander
die Eidabnahme und Segnung der neuen Gruppen vor. Auch am Freitag
nahmen 10 neue COF-Gemeinden ihre
Tätigkeit auf: COF-Gemeinde
Dietzenbach, COF-Gemeinde Dortmund, COF-Gemeinde
Ansbach, COF-Gemeinde Braunschweig,
COF-Gemeinde Passau, COF-Gemeinde
Großwallstadt, COF-Gemeinde
Greifswald, COF-Gemeinde Potsdam,
COF-Gemeinde Grävenwiesbach,
COF-Gemeinde Ulm. Um kurz nach
vier trat der Wuppertaler Kunsttheoretiker Bazon Brock an das Rednerpult
und referierte zum Thema "Lohn der Angst". Ein Vortrag,
dem nicht jeder Zuhörer folgen konnte. |
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18.36
Uhr. Die Internetkirche der CHURCH OF FEAR
wird gestürmt, die Site www.churchoffear.net wird gehackt.
Auf der Startseite fand sich folgendes Bekennerschreiber:
"Die
Medienkunstgruppe CNTRCPY bekennt sich zu diesem Anschlag auf die
Church of Fear.
Den
unzähligen Aufrufen zum Terrorismus folgend haben wir ein Attentat
auf die Website verübt. Dieses Informationssystem ist bis auf
weiteres von CNTRCPY blockiert. (...)"
Des
weiteren wird ein Lösegeld in Höhe von € 100.000,-
gefordert, die aus den Erlösen des Losverkaufs rekrutiert werden
sollten. Ein Geld, das gemäß den Spielregeln den arbeits-
und obdachlosen Pfahlsitzern zugute kommen soll. "So tief sind
jetzt schon die Kunststudenten gesunken. Dann doch lieber Platte",
äußerte Björn Saragosa auf Pfahl Nr.4 Unverständnis,
nachdem COF-Mitarbeiter die
Teilnehmer über mögliche Gewinneinbußen informiert
hatten.
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Am Abend zog der Losverkauf nochmals an. "Bis zum endgültigen
Verkaufsschluß um 21.00 Uhr rechnen wir mit 7500 Losen, die
Sie zur Aufbesserung Ihres eigenen Arbeitslosengeldes verkauft haben",
animierte Kirchenmitglied Schlingensief letztmalig die Menschenmenge.
Wettspieler, die kurz vor Toreschluß auf den großen
Gewinn spekulierten, holten direkt an den Pfählen Berichte
über den körperlichen Zustand der sieben Säulenheiligen
ein. Das Arbeits-Los von Nina Krämer, Pfahl Nr.2, zog anschließend
nochmals am stärksten an. In sie setzen viele Frankfurter nun
ihre letzte Hoffnung. "Ich habe am Wochenende selbst am Casting
zum Pfahlsitzwettbewerb teilgenommen, bin aber leider durchgefallen.
Jetzt versuche ich, auf diese Weise meinen Nutzen aus der Aktion
zu ziehen", erklärte Marianne Kapp aus Wiesbaden ihre
Wettmotivation. Harald Rey auf Pfahl Nr.1, als Sieger des Wettbewerbes
in Venedig anfangs im engsten Favoritenkreis, fiel am Abend weiter
zurück, nachdem er Passanten eingestand, daß er sich
eine komplette Nacht hatte ablösen lassen. "Damit ist
man für die Wettexperten natürlich uninteressant",
resümierte Rey eine Woche, "die ich insgesamt als wesentlich
intensiver empfunde habe als die Tage am Lido. In Venedig war man
ja praktisch ein Affe unter Affen im Kunstzoo, hier steht man voll
im Leben - oder besser gesagt, man sitzt..."
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Die
letzten Minuten des Losverkaufs wurden von der Einspielung der letzten
dokumentierten Adorno-Rede begleitet: "Hier sehen wir Menschen,
denen das Sterben mißlungen ist." Um Punkt neun erklärte
COF-Präsidentin, aus einer
Diskussion über "Angst nach demTod" heraus gerissen,
den Losverkauf offiziell für beendet. Kirchenmitglied Christoph
Schlingensief fragte die 7 Pfahlsitzer letztmals, ob sie die letzte
Nacht des Wettbewerbes auf ihren Säulen verbringen wollten. Eine
Frage, die die Pfahlsitzer letztmals einhellig bejahten. "Morgen
um zwei ist alles vorüber", blickte eine erleichterte Susanne
Reinhardt voraus." Die Pfahlsitzerin aus dem Örtchen Idstein,
die anfangs niemand auf der Rechnung hatte, ging als Führende
in die entscheidenen Stunden des Wettbewerbs. Es begann die abschließende
Nacht des DRITTEN INTERNATIONALEN PFAHLSITZWETTBEWERBES.
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