Die auf dieser Seite veröffentlichten Texte stammen von »Heiligen der Angst«. Sie haben sich direkt nach Gründung der Church of Fear aufgemacht, die Botschaft der Angst zu verkünden und sind dabei nicht selten mit jener Amtskirche, aus der sie stammen, in Konflikt geraten. Unser besonderer Dank gilt ihrem unermüdlichem Einsatz. Die Seite wird kontinuierlich aufgefüllt.

Bitte informieren Sie sich über die Texte der Heiligen!

Predigten

Wenn auch Sie Ihren Text hier veröffentlichen wollen,
dann mailen Sie bitte an:
holy@church-of-fear.net

 

Pater Thadeus »Hat Multikultur in D eine Chance?«, Fulda.....hier

 

Pater Peter »Kirche der Angst vs. Angstpolitik«, Berlin.....hier

 

Bruder Christof »In die Hirnrinde geritzt...«, Lüderitz.....hier

 

In englisch:
Father Karl »Permission to Bleed«, Vienna.....hier

 

Bruder Sören »Tagebuch der Angst«, Eintrag 17.6.2003.....hier

 

Bruder Klaus »Liebe Freunde!«, Bad Kleister.....hier

 

Bruder Georg »Die Blume der Furcht« (Skript der Predigt, die Bruder Georg am 27. März 2003 vor Mitgliedern der Gemeinde Berlin gehalten hat).....hier

 

Pater Peter »18 % x 1ooo m = Angst«, Diözese Berlin.....hier

 

Bruder Ernst »ANGST als CHANCE«, Karlsruhe.....hier

 

Dr. Hugo Ball »Anleitung zum stylitischen Leben«, München.....hier

       
 

 
 

Pater Thadeus, Fulda, zur Frage »Hat Multikultur in Deutschland eine Chance?«

Gefragt wurden 10 Personen des öffentlichen Lebens, unter ihnen Guido Westerwelle, Xavier Naidoo und Ronald Schill.
Den vollständigen Antwortenkatalog lesen Sie in "Die Sakristei", Nr. 8/2003, S. 11-16 (alle Angaben gem. Pater Thadeus).

Meine Einsicht, Erkenntnis, Erleuchtung etc. lautet: Deutschland braucht Ausländer ! "Ausländer rein". Kultur x Kulturen = Multikultur, die ist dringend nötig ! Deutschland kommt mit seinen Inländern einfach nicht mehr klar. Deutschland ist Intensivstation, auf der sich Patient an Patient reiht; ein Land als Nervenanstalt, in der selbige blank liegen. Krankheitserreger stören sich doch nicht an Gesundheitsreformen. Oder glauben Sie etwa den politischen Betroffenheitsmienen, wenn mal wieder ein Asylantenheim brennt? Da wird die schnellste Kranzniederlegung per Zielfoto ermittelt. Erst letzte Woche eröffnete Edmund Stoiber ein Institut für Xenophobie in Schweinfurt. Der Teufel steckt im Detail - und in Baden-Württemberg: ein Institut gegen Xenophobie wäre besser gewesen. Wer also soll hier noch Aufsicht führen? Wer legt Transfusionen, nimmt Not-OP´s vor? Die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung hat sich gestern mit einem illegalen Transport abgelehnter Asylbewerber nach Rumänien abgesetzt. Die wollte weg, nur noch weg. Horst Mahler wollte nach Auschwitz - und mußte hier bleiben, mit Inländerfreunden gegen ausgestellte Wehrmächte demonstrieren. Es flüchten immer die Falschen…

Wenn Sie, sehr verehrte Ausländer, bereits den Mumm aufgebracht haben, hierher zu kommen, dann gehen Sie bitte noch einen Schritt weiter. Helfen Sie ! Bitte, helfen Sie ! Kümmern Sie sich um uns ! Wer sich gegen seine innere Stimme, gegen seine begründete Angst für die Intensivstation entschieden hat, verspürt jetzt bestimmt einen enormen Energieschub. Aufladung durch Entladung. Sie haben sich endlich mal durchgesetzt - gegen die Orakelsprüche der vom Volk gewählten Volksfeinde, gegen die Panikpatente der Medienkonstrukteure. Sie haben sich gegen die staatlichen Angstverwalter, Sie haben sich auch gegen SICH SELBST durchgesetzt. Ab sofort stehen Sie in der deutschen Wirklichkeit, die ähnlich stabil ist wie ein Kartenhaus. Herzlich Willkommen !

Eigentlich ist es eine bodenlose Unverschämtheit, Ihnen unter diesen Umständen noch Auflagen zu machen, aber die Made in Germany frißt sich fett und treibt uns unvermeidlich zu dieser Dreistigkeit: Bringen Sie also nach Möglichkeit Mut mit, Durchsetzungsvermögen und Wille zur Veränderung vielleicht ! Verändern Sie uns, bevor Deutschland Sie verändert ! Was glauben Sie, wo Sie hier sind? …Aufladegeräte wären prima, irgendeine ähnliche Apparatur, die Energie speichert… Auf der Intensivstation mangelt es am nötigsten: Blutkonserven, ausgeschlafenen Ärzten, frischem Bettzeug. Deutschland braucht Frische ! Es mangelt an Perspektive. Wir werden Ihnen unsere nicht aufzwingen, versprochen. SIE SIND UNSERE PERSPEKTIVE ! Mehr Werbung für Deutschland ist hier einfach nicht drin…Wir können Ihnen nicht helfen und beten gerade deshalb, daß Sie sich zu uns durchschlagen.

Gewissermaßen als Willkommensgruß oder um Sie mit unseren Sicherungsvorkehrungen vertraut zu machen, möchte ich Sie auf eine Selbstbewußtseinsmaschine aufmerksam machen, an die auch Sie sich anschließen können - die SIE SELBST sind ! Die Church of Fear steht im Dienste der "Heiligen, die auf Erden sind, und für die Verklärten, an denen wir Gefallen haben" (Psalm 16). Folgen Sie nach Grenzübertritt der CHURCH of FEAR ! Gehen Sie direkt dorthin ! Gehen Sie nicht über "LOS, Sie sind in Deutschland, jetzt seien Sie mal gefälligst dankbar!"
Die Church of Fear will Antworten geben, ohne Lösungen zu bieten. Die Church of Fear will die undichte Stelle finden, das Leck im Schwarzen Loch, durch das das Licht fällt. Sie sind das Kapital - von Heute, Hier und Jetzt!

Deutschland braucht Sie!

 

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Kirche der Angst vs. Angstpolitik

Ein Beitrag von Pater Peter, Church of Fear, Diözese Berlin
Die harte Kirche der Angst ist natürlich das postfaschistische Entertainment-Regime Berlusconis, das nur davon lebt, dauernd Ängste auszulösen und zu verstärken – vor den Kommunisten, vor Ausländern, vor dem Wirtschaftsabschwung, vor Kriminalität, vor Globalisierungsgegnern und derzeit besonders gerne: vor der allmächtigen Justiz etc.
Genau wie das Bush-Regime ständige Angstproduktion in der Propaganda zum politischen Überleben braucht. Angst produziert dann logisch Gewalt, Kriegsbereitschaft, Sehnsucht nach dem starken beschützenden Führer usw.
Und wie die Angst vor der Gefahr die Gefahr erst produziert, so produziert der »Kampf gegen den Terror« logisch neuen Terrorismus, der dann wieder mit neuen Feldzügen bekämpft werden muss. Eine politische Angstmaschine, die immer weiter geht und ihren eigenen Rohstoff (Angst) dauernd selbst produziert, ein Perpetuum mobile. Ohne reale oder inszenierte Bedrohungsszenarien (die berühmte Anthraxhysterie) kollabiert es.
Man könnte Berlusconi und Bush vielleicht mit entsprechend paranoiden Zitaten zu Ehrenmitgliedern der CHURCH of FEAR, der Kirche der Angst machen. Und wir bieten ihnen an, sie zu erlösen : »Befrei Dich von Deiner Angst – indem Du sie genießt! Dann musst Du keine armen Länder bombardieren und Demonstranten erschießen lassen! Du musst lernen mit Deiner Angst zu leben! Du kannst das! Foltere Dich selbst gegen Deine Angst! Vertreib die Dämonen aus Deiner Seele, indem Du Deinen Leib geißelst!« Und deshalb wird auch in Venedig ein Pfahl für Berlusconi reserviert. Die CHURCH of FEAR bietet ihm an, ihn zu retten.
Die reaktionäre Kirche der Angst ist die Volksgemeinschaft oder die republikanische Partei samt den wiedergeborenen Christen.
[»Kirche der Angst vs. Angstpolitik« ist das Typoskript der Predigt, die Pater Peter am 24. Mai 2003 in Gedenken an Simeon Stylites den Jüngeren in Leipzig gehalten hat.]

 
   

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»In die Hirnrinde geritzt...«

Aphorismen zum Angstvollen Denken im 21. Jahrhundert, zusammengetragen
von Bruder Christoph, CHURCH of FEAR, Diözese Lüderitz
»Angst erschafft Hass, Hass schenkt Kraft !«
»Wenn die Amerikaner keine Massenvernichtungswaffen finden, müsste man doch eigentlich welche herstellen, damit diese leidige Diskussion, innerhalb derer unsere Angst erneut missbraucht wird, endlich ein Ende hat.«
»Es ist ein Abenteuer, dass jeder zu bestehen hat : dass er lerne, sich recht zu ängstigen.«
»Wer Furcht verbreitet, der kann nicht ohne Furcht sein.«
»Angst ist die erdabgewandte Seite des Muts.«
»Unsere Ängste stellen – wenn wir sie zu nutzen wissen – eine Schatzkammer der Selbsterkenntnis dar.«
»Wenn man 10 Lehrjahre dafür benötigt, wie man Saddam Hussein in den Kopf schießt, dann dürfte es bei Tony Blair in maximal 5 Jahren machbar sein.«
»Man muss vor nichts im Leben Angst haben, wenn man seine Angst versteht.«
»Angst ist eine Energiequelle, für das Überleben unverzichtbar.«
»Die größte Angst derer, die uns zu Marionetten der Angst machen : dass alle Stricke reißen.«

 

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Permission to Bleed

By Father Karl, CHURCH of FEAR, Vienna
We need fear and thank the media for giving us so much of it. Fear first of all makes us unbearable towards ourselves and others. It is a great helper when we are thinking about moving to hell of our own accord. When we are making friends with the possibility of an existence in hell, as Faust demonstrated, because there is not much more we can get out of ourselves, then we briefly become bearable again, to ourselves and others. In this way, we enter the invisible temple of the Church of Fear. We surrender to hell, confused and fearful as we are. Only our fear has the power to deliver us from our fear. The Church of Fear proposes that we should summon up more fear than is to be our due and that we should let the fears tear apart our body, so that its dismemberment can be seen by all and the parts taken up by others. The Church of Fear teaches us how to bring fear back from media fantasies into the body. The body is allowed to act out fear and turn into a body of fear that it has in common with others. Then fear will guide it on its way to the light. That is why the exercise of pole-sitting has been developed – seven unemployed people are allowed to conduct the energies conducted into them by the public sphere back into the public sphere. They are allowed to pass on their publicly displayed fear to the lightning conductor which is the Church of Fear. The drunkenness with fear, the typical mental state of our societies, can finally show itself to be the intoxication that has long outstripped the inebriated states brought about by alcohol and other drugs and that has its own, still-to-be-developed rituals and bodily states. Intersubjectivity guarantees effective transfer of energy, the visible ritual, the necessary participation of the public. As with the actionists, especially Hermann Nitsch, there may be a cathartic process. The Church of Fear shows the stigmata of fear to everybody and permits these stigmata to bleed.
Yours, Father Karl

 
   

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»Tagebuch der Angst«

von unserem Bruder Sören
Es kommt darauf an, meine Bestimmung zu verstehen, zu sehen, was die Gottheit eigentlich will, daß ich tun soll; es gilt, eine Wahrheit zu finden, die Wahrheit für mich ist, die Idee zu finden, für die ich leben und sterben will.... Was nützte es mir, daß die Wahrheit kalt und nackt vor mir stünde, gleichgültig dagegen, ob ich sie anerkennte oder nicht...? Worauf es ankommt, ist nicht die Masse von Erkenntnissen, sondern das innere Handeln des Menschen.... Es kommt mir vor, als hätte ich nicht aus dem Becher der Weisheit getrunken, sondern sei in ihn hineingefallen.... Ich will nun versuchen, den Blick ruhig auf mich selbst zu heften, und will beginnen, innerlich zu handeln; denn nur dadurch werde ich fähig sein, gleich wie das Kind sich bei seiner ersten bewusst vorgenommenen Handlung »ich« nennt, mich in tieferer Bedeutung »ich« zu nennen.... So sei denn das Los geworfen – ich gehe über den Rubikon!

 

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Liebe Freunde!

Ich heiße euch herzlich willkommen zu unserer ersten Zusammenkunft in der neuen Gemeinde Bad Kleister. Hätten wir uns euer zahlreiches erscheinen noch vor wenigen Wochen kaum vorstellen können, so sind unsere kleinen Treffen mittlerweile zu einer liebsamen Gewohnheit geworden, und um so mehr freut es mich, nunmehr alle bekannten und viele neue Gesichter zusammen an diesem regnerischen Freitagabend versammelt zu sehen. Die unterschiedlichsten Gespräche und Ansichten über und zu Themen der Angst haben uns in den letzten Wochen beschäftigt und uns gedanklich näher aneinander rücken lassen. Unser erster Congress in Venedig ist vor wenigen Tagen erfolgreich zu ende gegangen, und ich darf auch ganz herzlich eine der teilnehmenden Pfahlsitzer in unserer Runde begrüßen.
Sie war es, die mir den Impuls gegeben hat, heute näher auf ein Zitat einzugehen, an das wir uns letztens in einem gemeinsamen Gespräch erinnert haben.
»...dass diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist...« ein Satz von Carl Hegel, der in großen Leuchtbuchstaben bereits schon seit einigen Jahren auf der Kopfseite des Stuttgarter Hauptbahnhofes geschrieben steht. Obwohl ich mit stets sicher war, dass dieser Satz aus seinem sinnhaften Zusammenhang gerissen war, so war ich doch angetan davon, ihn so für sich selbst stehen zu sehen, und empfand ihn als unglaublich tröstlich. Dieser Satz ist mir schon lange vor der Gründung unserer kleinen Gemeinde immer wieder ins Gedächtnis gekommen, und wurde mir zu einem treuen Begleiter. Vor dem Hintergrund unserer Glaubensgemeinschaft jedoch, sah ich ihn plötzlich in einem anderen Licht.
Wenn man sich den Satz näher betrachtet, so behandelt er zwei essentielle Themen unserer jetzigen, vergangenen und auch zukünftigen Zeit: zum einen die Furcht, zum anderen den Irrtum. Zusammengefasst die Furcht vor dem Irrtum, vor der Fehlbarkeit, davor seinem Gefühl nicht trauen zu können, zu irren.
Diese Furcht ist mir in der Vergangenheit schon mein ganzes Leben mit treuer Zuverlässigkeit begegnet, wann immer mich mein Lebensweg an eine Kreuzung geführt hat. Wann immer es darum ging, eine Entscheidung zu treffen, habe ich sie gespürt. Das Erstaunliche dabei war, dass ich eigentlich nie dass Gefühl hatte, dass dies ein natürliches Gefühl sei, dass sich selbstredend in solchen Situationen einzustellen hat, wie der Regen im April, vielmehr waren es äußerliche Kräfte, die in diesen Momenten auf mich eingewirkt haben, die mich zweifelnd machten, über die Richtigkeit meines Handelns.
»Herbert, kein Mensch macht heute mehr eine Umschulung als Schreiner, das Handwerk ist mehr als tot, da geht doch die Wirtschaft auch den Bach runter...« – »Herbert, kein Mensch heiratet heute mehr, weißt du nicht, dass 90% aller Ehen geschieden werden?« – »Herbert, bei der Mietpreisanhebung in den nächsten Jahren wird kein Mensch mehr eine 4-Zimmer-Wohnung bezahlen können, überlege dir das gut...« – »findest du wirklich, man sollte heutzutage noch Kinder in die Welt setzten, trotz all den Umweltkatastrophen und der unsicheren wirtschaftlichen Lage? Kannst du dir das überhaupt leisten? Außerdem bist du auch nicht mehr der Jüngste...« – »ich würde mir das mit der Selbstständigkeit noch mal gut überlegen, liest du denn eigentlich keine Zeitung?...« – »...nach Tunesien im Sommer? Sag` mal habt ihr keinen Fernseher?« – »...bei einem solchen Eingriff wäre ich vorsichtig, du hattest doch schon immer Beschwerden, nie hat´s dich sonderlich gestört, ich habe gehört, so was soll sehr riskant sein, und dazu noch in deinem Alter...?«...
(Dem regen ist es doch egal, wie wir ihn nennen, Umweltkatastrophe oder kleiner Schauer.)
Ich selbst hatte viele Probleme mit solchen Entscheidungen, viele Sorgen, aber eine »Angst aus Erfahrung« hatte ich nie. Kann man Ängste adoptieren? Ängste anderer als eigene annehmen und empfinden?
Angst vor Irrtum oder vielleicht sogar Angst im Allgemeinen setzt sich also immer aus zweierlei Komponenten zusammen, der sogenannt hausgemachten und der von außen einwirkenden Angst. In den letzten Wochen haben wir uns in vielen unterschiedlichen Gesprächen immer wieder auf diesen Konsens geeinigt. Ebenfalls einig waren wir uns darin, dass es in unserer Gemeinde nicht um die von innen heraus kommende, sozusagen um die instinktive Angst, sondern um die »gemachte«, die künstlich produzierte und propagierte Angst gehen soll. In anfangs zitierten Gesprächen mit Freunden und Bekannten ist mir aufgefallen, dass diese, als ihre eigenen Bedenken geäußerten Punkte nahezu nie ohne einen Verweis auf die Öffentlichkeit auskamen, als sei dies geradezu ein Beweis, der die wissenschaftliche Fundiertheit dieser Ängste berechtigen würde, sie zu allgemeiner Annerkennung erhebt.
Eine eigene, sich selbst erklärende angst braucht meiner Meinung nach aber keine Zeitungsartikel, keine Boulevard-Magazine, keine Tagesschau. Sie muss sich nicht rechtfertigen. Diese eigenen Ängste möchte ich nicht verlieren, ich möchte sie weiter haben können und ihnen vertrauen können, da sie ehrlich empfunden sind, und nicht erlernt oder aufgedrückt sind. Dazu muss man jedoch vielleicht lernen, sie von anderen unterscheiden zu können.
Mir fiel auf, dass Befragungen auf den Straßen zum Thema Irak-Krieg, die man in den letzten Wochen so häufig in den Medien vorgesetzt bekam, sich manches mal wie ein Vokabeltest anhörten. Man hatte den Eindruck, die Befragten hatten ihre Antworten gut gelernt, sie schienen zu wissen, welche Ängste man zu äußern habe, wenn jemand mit einer Kamera vor einem steht. Eine oft geäußerte Antwort, vornehmlich in den USA war beispielsweise die Angst, in Oklahomacity von einer irakischen Atombombe getroffen zu werden. Die Häufigkeit mit der diese Antwort auftrat, lässt die Phantasie des Einzelnen im Bezug auf eigene Ängste ausschließen. Ein seltsamer Gedanke ist das, davor Angst zu haben, von einer Atombombe getroffen zu werden... ich setzte dieser, meiner Meinung nach indoktrinierter Angst meine eigene entgegen: ich habe große Angst davor, dabei zusein, wenn andere Menschen von einer Atombombe getroffen werden, eine Angst, die stellvertretend für all meine Ängste steht, einer Situation emotional nicht gewachsen zu sein, überfordert zu sein, durchzudrehen, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Öffentlich meinungsbildende Angst misst sich demnach immer nach ihren Auswirkungen, nach ihrem Ergebnis, nicht jedoch nach ihrer Kausalität. Niemand äußerte die Angst, dass dieser Krieg ein simpler Irrtum sein könnte. Viele setzten in unseren Gesprächen ihr Wissen entgegen, ein totaler Irrtum könnte das ja nicht sein, dazu wisse man zuviel. Aber vielleicht sollte man dieses gleiche Wissen auch konstruktiv dazu nutzen, künstlich konstruierte Ängste zu enlarvieren?
Jedoch kann man sich der Einflussnahme auf eigene Ängste entziehen?
Seit es unsere kleine Gemeinde der Angst gibt, haben wir uns viel damit beschäftigt. Wir waren uns alle darin einig, das dies zwar individuell gelingen kann, aber im ganzen und großen wahrscheinlich unmöglich ist. Vielmehr geht es vielleicht darum, sich nochmals diesen Unterschied bewusst zu machen, und seinen Ängsten gegenüber Verantwortung zu übernehmen. Sie nicht wie ungezogene Kinder in die Besenkammer zu sperren, sondern auch diesen uneingeladenen Gefühle Gastfreundschaft zu gewähren. Folgerichtig nicht Angst als einen übermächtigen Gegner zu sehen, sondern sie als Bestandteil der eigenen Macht anzunehmen und zu nutzen.
Vielleicht auch wieder einen Schritt zurückzugehen, und der Angst einen anderen Namen zu geben, wieder viel gelassener auf die »kleinen Stimmen im Bauch« zu hören anstatt zuzulassen, dass sie von den lauten und schillernden Postar-Ängsten in den Medien übertönt werden.
Mit der bewussten Reizüberflutung durch neue Ängste wird ein Monopol aufgebaut, dem es entschieden entgegenzutreten gilt.
Wir wollen im rahmen unserer Gemeinschaft tapfere Schritte in diese Richtung wagen, und ihr ein bewusstes leben und erleben der Ängste entgegensetzten.
Wir werden versuchen, die falschen von den wahren Ängsten unterscheiden zu lernen, und unsere wahren Ängste anzunehmen und sie nicht länger zu verbergen. Unsere Ängste bedeuten kraft! Lassen wir es zu, von unseren Ängsten geliebt und beschützt zu werden! Deine Angst liebt dich! Erweise dich dieser Liebe würdig! Vielen dank für eure Aufmerksamkeit!
Euer Bruder Klaus
Bad Kleister, 27. Juni 2003

 
   

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Die Blume der Furcht

Skript der Predigt, die Bruder Georg am 27. März 2003 vor Mitgliedern der Gemeinde Berlin gehalten hat.

Es war einmal eine Lilie. Die stand an einer abseits gelegenen Stelle an einem kleinen rinnenden Wasser und hielt gute Nachbarschaft mit ein paar Nesseln sowie mit einer Anzahl anderer Blümchen da in der Nähe. Die Lilie war nach der wahrhaften Beschreibung des Evangeliums schöner gekleidet als Salomo in all seiner Herrlichkeit, dabei sorglos und froh den lieben langen Tag. Unmerklich und in Glückseligkeit glitt die Zeit dahin, gleich dem rinnenden Wasser, das rieselt und dahinzieht. Aber da traf es sich, dass eines Tages ein Vögelchen kam und die Lilie besuchte. Am nächsten Tag kam es wieder, blieb dann mehrere Tage fort und kehrte sodann wieder. Das dünkte der Lilie seltsam und unerklärlich; sie konnte es nicht fassen, warum der Vogel nicht auf derselben Stelle blieb wie die kleinen Blumen, und es dünkte sie sonderbar, daß der Vogel so launenhaft sein konnte. Wie das nun oft vorkommt, so geschah es auch der Lilie: gerade weil der Vogel so launenhaft war, verliebte sie sich immer mehr in ihn.
Dieses Vögelchen war ein schlimmer Vogel; statt sich in die Lage der Lilie zu versetzen, statt sich an ihrer Schönheit zu freuen und sich mit ihr ihrer unschuldiger Glückseligkeit zu erfreuen, wollte er sich dadurch wichtig machen, dass er seine Freiheit fühlte und die Lilie ihre Gebundenheit fühlen ließ. Und nicht nur das -: auch war das Vögelchen redselig, es erzählte von allem möglichen, Wahres und Unwahres; es sprach von weit prächtigeren Lilien, die an anderen Stellen in großer menge stünden und wo eine Freude und Munterkeit, ein Duft, eine Farbenpracht und ein Vogelgezwitscher herrsche, dass es nicht zu sagen sei. So erzählte der Vogel, und jede seiner Erzählungen endete gerne mit der für die Lilie demütigenden Bemerkung, im Vergleich mit solcher Herrlichkeit sehe sie wie ein Nichts aus, ja, sie wäre so unbedeutend, dass es sich überhaupt frage, mit welchem Rechte sie sich eine Lilie nenne.
So wurde die Lilie bekümmert, und je mehr sie auf den Vogel hörte, desto mehr wuchs ihre Bekümmernis. Nachts schlief sie nicht mehr ruhig, und morgens wachte sie nicht mehr froh auf. Sie fühlte sich gefangen und gebunden, das Rieseln des Wassers fand sie langweilig, und der tag wurde ihr lang. Nun fing sie an, sich voller Selbstbekümmernis, solange der tag währte, mit sich selber und mit ihren Lebensverhältnissen zu beschäftigen.
»Ganz schön mag das ja sein«, sagte sie zu sich selber, »hin und wieder und um der Abwechslung willen auf das Rieseln des Baches zu lauschen. Aber tagein, tagaus immer dasselbe zu hören, das ist doch gar zu langweilig«. – »Es kann angenehm sein«, sagte sie bei sich, »hin und wieder an abgelegener Stelle zu stehen und einsam zu sein; aber so das ganze Leben hindurch vergessen zu sein, ohne Gesellschaft zu sein oder nur durch die Gesellschaft von Brennesseln zu haben, was doch wohl für eine Lilie keine Gesellschaft ist, das ist nicht auszuhalten.« – »Und dann«, meinte sie weiter bei sich, "und dann so gering auszusehen und so unbedeutend zu sein, wie es der kleine Vogel von mir behauptet, – ach, warum bin ich nicht an anderer Stelle und unter anderen Lebensbedingungen aufgewachsen?! Ach, warum bin ich keine Kaiserkrone geworden!? Das Vögelchen hatte ihr nämlich erzählt, unter allen Lilien gelte die Kaiserkrone für die schönste und werde von allen Lilien beneidet. Um so mehr kam es der Lilie zu Bewusstsein, wie die Bekümmernis nach ihr griff. Aber dann redete sie sich vernünftig zu, – aber doch nicht so vernünftig, dass sie sich die Bekümmernis aus dem Sinn schlug, sondern so, dass sie sich selber davon überzeugte, wie berechtigt ihre Kümmernis sei; denn, so sagte sie, »mein Wunsch ist ja kein unvernünftiger Wunsch. Ich verlange ja nichts Unmögliches, dass ich gar etwas werden möchte, was ich nicht bin, zum Beispiel ein Vogel. Nein, – mein Wunsch ist lediglich der, ich möchte eine prächtige Lilie werden oder doch auch die prächtigste von allen.«
Während alledem flog das Vögelchen hin und her, und mit jedem seiner besuche und mit jedem Abschied wuchs die Unruhe der Lilie. Schließlich vertraute sie sich dem Vogel ganz an. Eines Tages kamen sie überein, am nächsten Morgen solle eine Veränderung vor sich gehen, und der Bekümmernis solle ein Ende gemacht werden. Zeitig am nächsten Morgen kam das Vögelchen; mit seinem Schnabel hackte es das Erdreich an der Wurzel der Lilie los so dass sie frei werden konnte. Als das geglückt war, nahm der Vogel die Lilie unter seine Flügel und flog mit ihr von dannen. Es war nämlich verabredet worden, der Vogel solle mit der Lilie dorthin fliegen, wo die prächtigen Lilien blühten; dort solle er ihr dann beim Einpflanzen behilflich sein, um zu erproben, ob es der Lilie nicht durch die Ortsveränderung und die neue Umgebung glücke, in der Gesellschaft der vielen eine prächtige Lilie oder gar eine Kaiserkrone zu werden, die von allen anderen beneidet werde.
Ach unterwegs welke die Lilie. Wäre der bekümmerten Lilie genug gewesen, dass sie eine Lilie war, so wäre sie nicht bekümmert geworden. Hätte die Bekümmernis in ihr keine Stätte gefunden, so wäre sie stehen geblieben, wo sie stand, – wo sie in all ihrer Schönheit stand. Wäre sie stehen geblieben, wäre sie gerade die Lilie gewesen, von der der Pfarrer am Sonntag sprach, als er das Wort des Evangeliums wiederholte: »Sehet die Lilien: ich sage euch, dass Salomo in all seiner Herrlichkeit nicht gekleidet war wie sie«...
Die Lilie ist der Mensch. Das schlimme Vögelchen ist der unruhige Gedanke des Vergleichens...
Wenn nun der Mensch an die Bekümmernis der Lilie, die eine Kaiserkrone werden wollte, nicht ohne Lächeln kann, und wenn er sich vergegenwärtigt, dass sie unterwegs verstarb, – o, dann bedenke, Mensch, dass es zum weinen wäre, wenn sich ein Mensch ebenso unvernünftig bekümmerte, – ebenso unvernünftig, – doch nein –: wie dürfte ich das so stehen lassen und wie dürfte ich ernstlich die göttlich bestellten Lehrmeister beschuldigen, – die Lilien auf dem Felde! Nein, – so bekümmerten sich die Lilien nicht, und gerade deswegen sollten wir von ihnen lernen.
Wenn es einem Menschen gleich der Lilie genügt, dass er ein Mensch ist, so wird er nicht krank durch zeitliche Bekümmernis, und wenn er nicht durch zeitliche Dinge bekümmert wird, so bleibt er auf jener Stelle stehen, die ihm angewiesen ist, und wenn er da verharrt, dann ist es fürwahr so, dass er durch sein Menschsein herrlicher ist als Salomos Herrlichkeit.

 

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18% x 1ooom = Angst

Ein Beitrag von Pater Peter, Church of Fear, Diözese Berlin [»18% x 1ooom = Angst« ist das Typoskript eines Vortrags, den Pater Peter am 10. Juni 2002 vor dem Dekanat der Katholischen Fakultät der Universität Tübingen gehalten hat.]

Der 5.Juni muss ein seltsamer Tag im Leben des Christoph Schlingensief gewesen sein. Am Vormittag erfährt die Welt auf einer Pressekonferenz, dass er nächstes Jahr ihn Bayreuth Wagners Parsifal inszenieren wird, dann legt er für die Biennale in Venedig letzte Hand an den Altar für die Church of Fear und kurz darauf fällt in Deutschland Jürgen W. Möllemann vom Himmel.

Kunst (Bayreuth), Religion (Church of Fear), Politik (Möllemann), drei Systeme, die an einem einzigen Tag mit dem System Schlingensief kollidieren. Das gespenstische daran ist, dass der Sturz des Politikers wirkt wie die finale Fortsetzung von Schlingensiefs AKTION 18. Der auf Duisburger Bühne geäußerten Aufforderung »Tötet Möllemann« ist nahe Marl nun irgendjemand gefolgt.

In der »Berliner Zeitung« bringt Andreas Mielke Aufstieg und Fall des politischen Aktionskünstlers Möllemann lakonisch auf die Formel: »...erst 18 Prozent und jetzt 1000 Meter?«; die BILD-Zeitung, wie immer an den fleischlichen Reizen des Geschehens interessiert, liefert das gedruckte Splattermovie: »...Beim ungebremsten Aufprall mit 200 km/h schiebt sich alles im Körper schlagartig auf den tiefsten Punkt. Organe, Blutgefäße, Herz, Hirn, Genick zerstören sich von oben nach unten und zerreißen, die Knochen splittern. Das Bewusstsein, bis zuletzt völlig klar, erlischt nach kurzem, grellem Blitz.« – So genau hat man es eigentlich nicht wissen wollen.

Vielleicht hat niemand den politischen Aktionskünstler Möllemann besser verstanden als sein westfälischer Nachbar Schlingensief. Bei einer Aktion vor Möllemanns undurchsichtiger Firma WEB-TEC warf er Fische in den Vorgarten und rief: »Ich verfluche Dich, Jürgen Möllemann! Ich schäme mich für Dich!« Schlingensief verbrannte eine israelische Fahne, um vorzuführen, dass der FDP-Populist Antisemitismus wieder chic gemacht hatte. Der Aktionist agierte also stellvertretend die Abgründe seines Gegenübers aus. Katharsis rockt. Die Erlösung vom Schrecken gelingt nur, indem er unter veränderten Vorzeichen noch ein Mal durchlebt wird, sagen die Trauma-Therapeuten. Was der Performance-Priester veranstaltete, war ein Reinigungsritual. Rührender dürfte die Rettung einer verlorenen Seele selten verbucht worden sein – kein Mordaufruf, sondern, mit den Worten des Theaterbeobachters der, eine Abwehrstrategie gegen das Böse. Anschließend hat die Gemeinde gesungen: »Der Blick in das Gesicht eines Menschen, dem geholfen ist, ist der Blick in eine schöne Gegend.« Möllemann wollte sich nicht helfen lassen. Entsprechend unschön war am Ende der Blick in sein Gesicht, oder in das, was davon noch übrig war. Um mit der offiziellen Hymne der CHURCH of FEAR zu schließen: Save our Souls, Save our Souls, Save our Souls, bzw. - - ... - - - . Leider ein Funkspruch, der nur selten erhört wird.

Posted at June 11, 2003 10:20 AM

 
   

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ANGST als CHANCE

Von Bruder Ernst, Karlsruhe

Auf die »Ich AG« folgt nun womöglich die »Meine Angst GmbH«. Was übrigens nicht nur rein finanziell gesehen durchaus Sinn macht, schließlich ist Angst längst zu einem Massenphänomen geworden. So leiden allein in Deutschland nach einer Studie der Technischen Universität Dresden und des Max-Planck-Institutes für Psychiatrie in München aus dem Jahre 2001 etwa 2,3 Millionen Menschen an krankhafter Angst. Und bei Frauen ist eine so genannte Angststörung sogar die häufigste psychische Erkrankung.

Auch der Regisseur, Aktionskünstler und ehemalige Parteiengründer Christoph Schlingensief setzt jetzt voll auf Angst. Genauer gesagt: Er propagiert das Bekenntnis zur Angst und hat zu diesem Zweck eine Church of Fear mit ins Leben gerufen. Diese Kirche der Angst, die inzwischen in Städten wie Berlin, Münster, Zürich oder Paris über
eigene Gemeinden verfügt, versteht sich allerdings ausdrücklich als Gemeinschaft von Nicht-Gläubigen oder, wie es in einer Presseerklärung heißt, von Menschen, die sich »von den Glaubensangeboten allgemein anerkannter Sekten in Politik, Wirtschaft,
Medien und Kultur distanziert und lossagen will«.

Glauben werde dort nämlich am effektivsten produziert, sagt dazu Kirchenvater Schlingensief, »wo nichts dringlicher ist als Unglaube – in den Parlamenten, an den Börsen und in den Fernsehstudios«.
Ausgangspunkt der Church of Fear sei daher das Angstbekenntnis das Bekenntnis zur eigenen Unvollkommenheit und Verletzlichkeit, aus denen Propagandisten in allen Lagern und Systemen Profit schlagen wollten.

Das klingt vielleicht – wie immer bei Schlingensief – ein bisschen abgedreht, hat aber durchaus einen wahren Kern. Nicht nur in der vermeintlichen großen Politik wird inzwischen ja wieder religiös verbrämt für Kreuzzüge gegen das Böse geworben, sondern auch im privaten Bereich sind Erfolg und Karriere für viele längst zu einer Art Ersatzreligion geworden, die dann in Kursen gläubig ein- und antrainiert werden. Wer da dann nicht mithalten kann, wird schnell als Loser abgestempelt, oder wer nicht mithalten will, wird gar zum weltfremden Ketzer erklärt.

Und ein Ketzer ist halt auch Schlingensief, der nun mit Parolen wie »Du bist Besitzer deiner Angst« oder »Es ist Zeit, sich offensiv zu ängstigen« durch die Lande und die Medien zieht und vom 10. Juni an auf der Kunstbiennale in Venedig mit sieben Freiwilligen ein öffentliches Angstbekenntnis zelebrieren möchte. Auch wenn diese ungewöhnliche Kirchengründung wahrscheinlich letztlich Scheitern wird, legt sie dennoch ziemlich zielgenau den Finger in die Wunde einer von der Angst besessenen Gesellschaft.

 

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Anleitung zum stylitischen Leben

Ein Beitrag von Dr. Hugo Ball, Church of Fear, München

1. Die Skala der göttlichen Einwirkung umfaßt alle Fäden des Unterbewußten. Vom mondmilden Einfluß der Suggestion bis zum panischen Lichtschlag, der Paulus zu Boden schmettert; vom gähnenden Widerspruche der Absurdität bis zur greifbaren Fülle des offenen Skandals: Gottes Wort wirkt auf den Narren wie auf den Weisen, auf den Niederen wie auf den Hohen, auf den Armen wie auf den Reichen, unwiderstehlich und überall. Es ist nicht zu verkennen. Doch es gibt Zeiten, die wachen, und solche, die schlafen. Zeiten, die rechnen, und solche, die halluzinieren. Solche, die blind sind, und solche, die sehen. Der Glaube bleibt immer derselbe. Der Glaube ist ewig wie Gott. Symeon der Stylit lebte in alarmierten Zeiten. Gott ist der Glaube an die Menschheit: dies Wort war Fleisch geworden. Dies Wort war mit Nägeln ans Kreuz geschlagen. Die Märtyrerscharen bezeugten es. Die Augen taten sich auf. Die Zeiten erwachten; die Lebenskraft halluzinierte. Die Zeitgenossen des Styliten widerstreben jedem Vergleich mit den unsrigen. Sie erlebten die Suggestion und den panischen Schrecken der Lichtflut. Sie erlebten das "credo quia absurdum" und Gottes Skandal. Sie sahen die Wunder, wie wir unsere Rechenmaschinen; und nicht weil sie andere Augen hatten, nein, weil sie gläubig empfingen.


2. Schon die ersten Schritte des heiligen Symeon tragen des Außerordentlichen Gepräge. Seine Eltern sind Hirten; sie haben auch ihn zum Hirten bestimmt. Ein Schneefall verhindert, daß er die Herde ausführt. Da sucht er die Kirche auf und vernimmt dort die Worte:

"Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich. Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind die Trauernden, denn sie werden getröstet werden."

Er kann den Sinn nicht verstehen. Er ist dreizehn Jahre alt. Er macht es wie Daniel zu Babel, der sich sein Traumgesicht von den vier Monarchien deuten läßt und da erfährt, daß die Heiligen des Höchsten das Reich einnehmen und ewig besitzen sollen. Er geht zu deren einem, die da stehen, und bittet ihn, ihm genauen Bericht zu geben. Er fragt einen Greis, was da gepredigt werde. Die Verachtung dieses Jahrhunderts werde gepredigt, so antwortet der Alte, und die Enthaltsamkeit.

"Was ist das, Enthaltsamkeit?", drängt das Hirtenkind. "Interrogo te quasi deum, ich frage dich, als wärst du Gott selbst."

"Du mußt alles ertragen", sagt der Greis, "alle Schande, alles Unrecht, alle Krankheit, alle Erniedrigung. Und du darfst keinen Trost erwarten. Deine Sorgen müssen dir Speise sein, deine Sehnsüchte Trank. Du mußt verzichten auf alle Vergnügen, die sich dir bieten. Wenn du es kannst, wirst du teilhaben am Reich der unsterblichen Geister. Begreifst du das? Begreifst du es aber, so bitte den Herrn der ewigen Geister um seinen Beistand, daß du den Willen behauptest und Tat werden läßt."

In überschwenglicher Dankbarkeit wirft sich der Knabe seinem sublimen Lehrer zu Füßen, enteilt, sinkt ein zweites Mal nieder vor einem Märtyrertempel und weint sieben Tage, die Stirne im Boden vergraben, bis er entschläft vor Trauer. Im Traume aber hat er ein Gesicht, das ihm kündet: was er von nun an unternehme, werde die Grenzen der Menschennatur überschreiten. Er sieht sich ein Fundament graben. Ein anderer steht dabei und fordert ihn auf, den Graben tiefer zu legen. Er folgt dem Befehl und beginnt dann auszuruhen. Die Erscheinung aber ruft ihn aus seiner Ruhe auf und befiehlt ihm, tiefer zu graben. Als derselbe Befehl ein drittes und viertes Mal an ihn ergeht, und er wegen der schwindelnden Tiefe des Grabens nicht mehr zu folgen vermag, da erklärt jener, es sei jetzt genug. Nun solle er das Gebäude errichten. Und mahnt ihn, der erschöpft aufhören will, mit den Grundmauern zu beginnen.


3. Die Hand Gottes ist in seinen Intellekt gegraben. Entsetzt und erschreckt begibt er sich in ein Kloster, um dem Geheimnisse nachzuspüren. Flehentlich muß er um Aufnahme bitten, eh sie bewilligt wird. Und doch ist es nicht sein Ziel. Er fängt sich in den Fallen, die Gott seinen Auserwählten stellt. Er gerät in die große Symbolik wie in ein Räderwerk, das ihn zermalmt. Er erlernt den Psalter.

"Erkennet doch", heißt es im vierten Psalm, "daß der Herr seine Heiligen wunderlich führet; der Herr höret, wenn sie ihn anrufen." Und im zwölften Psalm: "Hilf, Herr, die Heiligen haben abgenommen, und der Gläubigen Häuflein ist klein unter den Menschenkindern." Im zweiundzwanzigsten Psalm aber: "Ich bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und Verachtung des Volkes. Alle, die mich sehen, spotten meiner, sperren den Mund auf und schütteln den Kopf. Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, alle meine Gebeine haben sich zertrennt; mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzenes Wachs. Meine Kräfte sind vertrocknet wie ein Scherben, meine Zunge klebt an meinem Gaumen, und du legst mich in des Todes Staub."

Symeon überbietet alle achtzig Mönche des Klosters, die unter dem Archimandriten Timotheus, einem berühmten Abte, vereinigt sind, in den geistigen Übungen. Fordert die Regel, nur einmal am Tage zu essen, so ißt er nur einmal die Woche und schenkt das Übrige den Armen. Schlafen die anderen, so fällt er wachend in Träume.


4. Aus dieser Zeit seines Klosterlebens berichten die Biographen folgende Geschichte: Symeon hat, um seine Natur zu bändigen, das aus Palmblättern geflochtene Brunnenseil entwendet und es mit solcher Kraft sich um die Hüften geschnürt, daß der rauhe Strick die Weichteile durchschneidet und tief ins Fleisch dringt. Die Wunde eitert unter der Kutte; er hält sie geheim. Sie geht in unerträgliche Fäulnis über; es kommt zur Revolte im Kloster. Man stellt dem Abte ein Ultimatum: "Er ist eine Höllenfratze. Er kann leben, ohne zu essen. Er untergräbt die Klostergesetze. Und dann sein Verwesungsgeruch. Er oder wir!" Der Heilige wird vor den Abt gerufen: "Sag' uns, o Mensch, was tust du da? Was täuschest du die Brüder? Was verletzest du die Ordensregel? Und was für ein Höllenspuk bist du? Denn wärst du ein Mensch, aus menschlichem Samen hervorgegangen, sagtest du uns nicht, was deine Art ist und wer sie dich lehrte ?"

"Schonet mich, Brüder; laßt mich so sterben wie einen räudigen Hund! Lasset mich meine Verbrechen büßen. Ich bin ein Meer aller Sünden."

"Du bist noch nicht zweiundzwanzig Jahre alt", erstaunt sich der Archimandrit, "was hast du denn gesündigt?"

Und der Heilige: "Sagt nicht David: `Siehe, ich bin von sündigem Samen gezeugt, und meine Mutter hat mich in Sünden empfangen´?" Er meint den einundfünfzigsten Psalm, der von den Sünden des Zeitalters handelt, von den Sünden vor der Geburt, wenn es dort heißt: "Errette mich von den Blutschulden, Gott, daß meine Zunge deine Gerechtigkeit rühmen kann. Verwirf mich nicht, nimm deinen heiligen Geist nicht von mir." Aber die Mönche verstehen ihn nicht. Er soll gewaltsam entkleidet werden. Kutte, Strick, Fleisch und Eiter sind eine einzige Masse. "Ein zweiter Hiob!", entsetzt sich der Abt. Man muß ihn - o wie lernten wir schmerzhaft dieses Verfahren kennen! - drei Tage in warme Bäder legen, bis sich sein himmlisches Kriegerkleid löst, bis die Ärzte den kaum mehr erkennbaren Strick aus der Wunde ziehen.


5. Geheilt und entlassen, stürzt er sich nahe dem Kloster in eine versiegte Zisterne, auf deren Grund es von Kröten, Vipern und Ungeziefer wimmelt, und bleibt dort sieben Tage, ohne jede Nahrung. Er ist in die Sprache Gottes verstrickt, ohne es zu wissen, ohne es zu wollen. Der Brunnen, in den Joseph seine Brüder warfen, ist das Symbol des Grabes Christi. Das Seil, das er sich um die Hüften schlang, ist der Psalter, mit dem man die Wasser der Gnadenquelle schöpft. Timotheus aber, der Archimandrit, bereut, daß er den seltsamen Mönch vor die Türe setzte. Heftige Skrupel plagen ihn. Im Traume erlebt sein Gewissen das Begräbnis des vertriebenen Heiligen. Ein ungeheurer Menschenschwarm umgibt das Kloster. In weißen Kleidern und Fackeln schwingend ruft Stimmengewirr zum Abte hinauf: "Gib uns den Heiligen Gottes heraus, oder wir stecken dein Kloster in Brand! Er ist auserwählt von den Engeln. Was hast du ihn fortgejagt? Warum bist du Abt? Weißt du nicht, daß er größer ist als du, jetzt und beim jüngsten Gericht?" Zitternd richtet der Archimandrit sich im Bette auf. Hastig schickt er die Brüder nach allen vier Windrichtungen, jenen zu suchen und wiederzubringen. Man findet ihn schließlich in der Zisterne, ganz nahe beim Kloster. Man spricht Gebete, denn die Zisterne ist verrufen, und fünf steigen mit Fackeln, am Seile hinunter. Der Heilige sitzt in der Tiefe und lobt Gottes Sterne. Die Ottern, die ihn umgeben, weichen in ihre Löcher zurück vor dem Fackelschein.

"Ich beschwöre euch, Brüder", fleht Symeon, "verzieht noch ein wenig, bis ich den Geist aufgab. O wie ich leide, daß ich die Gnade dessen noch nicht empfing, zu dem ich mich hier hinunterstürzte." Die Brüder aber packen ihn wie einen Übeltäter und bringen ihn zum Abte, der ihm zu Füßen fällt. Symeon weint und schweigt. In ihm überschlägt sich die Trauer. Wie sollte er sprechen können?


6. Er bleibt drei Jahre; dann geht er heimlich davon. Am Fuße eines Gebirges, unweit Thalampsin in der Landschaft von Antiochia, baut er sich eine Steinhütte und schließt sich drei Jahre lang darin ein. Mit Moses und Elias nimmt er den Wettstreit auf, indem er beschließt, die vierzig Tage der Fasten ohne jegliche Nahrung zu verbringen. Kein Wort dieses Buches wird man so eifrig für eine Hyperbel halten wie dieses. Und doch ist es keine. Auf die Abschaffung der Bedürfnisse ist alle Übung der Heiligen gerichtet. Die Abschaffung der Bedürfnisse ist ihre Antwort auf die Probleme der Zeit, der sie angehören. Und es geht nicht einmal an, sie darum als Sportsleute aufzufassen oder vom Standpunkte des Hungerkünstlers aus zu betrachten. Denn dann müßte man sie billigerweise Sportsleute des Verzichts und der erprobtesten Fronde nennen und hinzufügen, daß diese verzweifelten Liebhaber der Ideen, diese entschlossenen Lebenshungerkünstler, von den Rekordschlägern der Rennbahn und des Panoptikums sich darin unterscheiden, daß sie mit der Abschaffung der Bedürfnisse die Läuterung der Gemütskräfte erstreben.

Die Vierzig ist eine heilige Zahl. Sie bezeichnet die Grenze des Menschenmöglichen. Wer sie überschreitet, riskiert den Tod. Vierzig Jahre hielt das Volk Israel sich in der Wüste auf. Vierzig Tage und vierzig Nächte währte die Sintflut. Den vierzigtägigen Fasten des Heiligen entsprechen vierzig Tage einer vollkommenen, physiologischen Auflösung seines Denkens. Zu Symeon, der sich zu fasten anschickt, tritt Bassus, der Priester aus Antiochia, der die Gegend bereist, um die Eucharistie zu spenden. Bassus warnt seinen Diözesanen, die Vorsehung nicht zu versuchen. Symeon antwortet ihm: "Setze mir, gütiger Vater, zehn Brote und ein Gefäß Wasser in meine Zelle, damit ich mich dessen bedienen kann, wenn es nötig sein sollte." Die Tür wird vermauert; nach vierzig Tagen wird sie geöffnet. Symeon liegt auf dem Boden, in tiefer Ohnmacht. Die Brote, das Wasser sind unberührt. Man benetzt ihm die Zunge, man reicht ihm die Eucharistie: er belebt sich, er ißt. Von nun an feiert er diese Fasten: die ersten zehn Tage lobt er Gott, stehend auf seinen Füßen. Dann setzt er sich zum Gebet. Die letzten zehn Tage genießt er den Tod, lang ausgestreckt auf die Erde.


7. Nachdem er die Tiefe ermessen hat, verlangt es ihn nach der Höhe. Sein Leben ist ihm gezeichnet im Psalter. Nicht nur die Notdurft des Körpers soll er verwinden und in der Ohnmacht den Tod berühren; es ist ihm bestimmt, ein lebendiges Monument der Verwesung zu werden.

"Ich habe gesagt zu dem Herrn: Du bist ja der Herr, ich muß um deinetwillen leiden. Für die Heiligen, die auf Erden sind, und für die Verklärten; an denen habe ich all mein Gefallen." (16. Psalm.)

"Die Erde ist des Herrn, und was darinnen ist; der Erdboden, und was darauf wohnt. Wer wird auf des Herrn Berg gehen? Und wer wird stehen an seiner heiligen Stätte?" (24. Psalm.)

Symeon steigt auf den Gipfel des Berges, an dessen Fuß seine Hütte lag. Aus Steinen baut er sich dort eine Hürde. In das Geheimnis der Masse, in die Bedingungen der Herde versenkt er sich. Er lebt ohne Dach, allem Unrecht der Witterung ausgesetzt. Er untersagt sich das Gehen. Indem er an seinen Fuß eine Eisenkette von nur zwanzig Ellen Spielraum legt und die Kette an einen Steinhaufen befestigt, fesselt er sich an den dürftigsten Fleck, gibt er sich freiwillig gefangen. "Du bist in die Hohe gefahren", heißt es im dreiundsechzigsten Psalm, "und hast das Gefängnis gefangen. Du hast Gaben empfangen für die Menschen, auch für die Abtrünnigen, daß Gott, der Herr, dennoch daselbst bleiben wird." Menschen strömen zu Hauf, ihn zu sehen. Milezius, der Vikar des Patriarchen, besucht ihn: die Kette bedeute noch Unfreiheit. Sein auf das Gute gerichteter Wille allein müsse ihn fesseln. Da legt er die Kette ab. Man schleppt Kranke hinauf auf den Berg. Ganze Städte und Landschaften setzen sich in Bewegung, sein Wort zu vernehmen. Da türmt er den Steinhaufen, daran seine Kette befestigt war, höher, sechs Ellen hoch, und besteigt ihn als Säule. Um im Gebet nicht gestört zu werden, tut er den letzten Schritt:

"Bringet her, ihr Völker, bringet her dem Herrn Ehre und Macht.
Aller Heiden Götter sind Götzen; der Herr aber hat den Himmel gemacht."


8. Und sie kommen, die Völker. Könige unter die Bettler gemischt. Die Säule wächst. Das Volk türmt sie höher. Erst zwölf Ellen, dann zwanzig, dann dreißig, dann vierzig Ellen. Einsam und immer unnahbarer ragt der Heilige des Herrn. Abgeschlossen durch eine doppelte Mauer, mit der man ihn gürtet. Er hat sich kaum selbst erhoben. Man hat ihn in Nebel und Nacht gestellt, in Sonne und Sturm, in Sterne und Regen, in Hagel und Blitz.

Er steht auf den Stab gelehnt, vierzig Jahre, und starrt in den Tag. Seine brüchigen Hände segnen der Sonne Aufgang und Niedergang. Sein weinender Mund kündet den Willen dessen, "der Adam kannte, eh er geboren; den Führer der Irrenden, Lenker der Cherubim; der Joseph führte gleich einem Lämmlein; der David die Grazie schenkte prophetischer Sprache ; der Lazarus nach vier Tagen vom Tode erweckt"; dessen Tiefe und Ruhe der schlafende Ozean nicht ermißt. Um den Sockel der Säule aber brandet das Meer der Gebrechen; das Tränenmeer, dessen Springquell der Seher ist; branden die Aufregung und das Fieber der Welt. Phönizier, Perser und Inder, Römer und Äthiopier, Britannen und Gallier, Skythen sogar und Nomaden kommen und rufen ihn an um Heilung und Benediktion.5 In den Hauptstädten des Römerreiches ist sein Bildnis verbreitet; es erinnert an die Büsten des Äschylus und des Homer. Wer sich in des Styliten Augen versenkt, vergißt Feindschaft und Haß. Um seinen Berg gelagert, schließen die Völker Bündnisse ab. Er schläft nie, er ißt nie. Er spricht auch nicht viel. Er betet von Sonnenuntergang bis zur Non. Dann heilt er Lahme und Taube, Stumme und Blinde. Mit der sinkenden Sonne versinkt auch er wieder, in seine Gebete, nicht in den Schlaf; denn seine Säule, so hoch, daß sie im Sturme schwankt, hat nur drei Ellen im Durchmaß. Er ist der beständige Wachtraum, die Wunderuhr Gottes. Der Erdball pilgert zu ihm.

Posted at July 28, 2003 16:17 AM

 
     

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