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CHURCH OF FEAR'S »3. Int. Pfahlsitzen« in Frankfurt a.M.
Frankfurt-Pressespiegel

Der weite Weg nach Bayreuth

Der Nomade, Egomane und Schamane Christoph Schlingensief unterwegs mit der "Church of Fear"

Von Peter Michalzik


Vielleicht war es eine Insel der Angst. Oder es war eine Antwort auf die
Verunsicherung in den Zeiten des globalen Terrorismus. Vielleicht war es
auch die Fortsetzung der merkwürdig seeligmachenden Politbewegung, die
Christoph Schlingensief seit der "Chance 2000", dem leider misslungenen
Versuch, eine Arbeitslosenpartei zu gründen, vor sich her treibt. Und
vielleicht war es sogar Kunst, eine medial durchreflektierte Form sozialer
Plastik.

Wahrscheinlich aber ist die "Church of Fear" doch am ehesten Ritus, Religion, Glaubensgemeinschaft. Christoph Schlingensief hatte - angeblich nach altchristlichem Vorbild - zur Biennale in Venedig am Eingang der Giardini sieben Pfahlsitzer positioniert, auf einem freiwilligen Pranger saßen dort diese "Säulenheiligen", ausgesetzt den Blicken und der Hitze. Sie
demonstrierten so einerseits für die Angst und andererseits für das Recht
auf persönlichen Terror. "Zeige Deine Angst" hätte Schlingensief - frei nach Beuys - über die Askesekünstler und Terrorgeschädigtenschreiben können, oder auch "Macht kaputt, was euch kaputt macht" - wörtlich nach Rio Reiser. Kurz zuvor war bekannt geworden, dass Schlingensief nächstes Jahr in Bayreuth den Parsifal inszenieren wird. Schlingensief! Den Parsifal!! In Bayreuth!!! Seitdem vibriert weniger der Grüne Hügel als die Neigung zur Skandalerregung steigt. Seitdem sieht es aber auch so aus, als sei die "Church of Fear" eine Gemeinschaft heutiger Gralssucher. Schlingensief vermeidet zwar jeden Eindruck, hier den Messias zu spielen, aber der heimliche Hohepriester oder zumindest der naive Parsifal ist er doch. Die "Church of Fear", das ist eine Erlösergemeinde und das ist Schlingensiefs Weg nach Bayreuth.

Mit einem kleinen Haufen netter Leute, allesamt Mitglieder der neuen
Glaubensgemeinschaft, zog Schlingensief nun vergangene Woche durch das Land - von Köln am Rhein nach Frankfurt am Main. In ihrer Mitte ein Leiterwagen, der die Berge hoch und runter geschleppt wurde, darauf der "Muezzin", eine kleine Anlage, aus der den ganz Tag Koran-Suren tönten, wie wenn sie um zwölf Uhr Mittags auf einem Minarett stünde. Dabei auch ein Megafon. Und zwei Transparente - "Church of Fear" auf dem einen, "Schreitender Leib" auf dem anderen - die immer, wenn jemand schaute, und seien es nur die mitgeführten Kameras, flugs entrollt wurden. Wo der "Schreitende Leib", hinkam, wurden Passanten in die Glaubensgemein-schaft aufgenommen und Ortsgruppen gegründet. Und man erwehrte sich tapfer der rheinland-pfälzischen Polizei, die der Wandergemeinschaft hartnäckig nachstellte. Am Dienstag war die Prozession dann in Bad Ems an der Lahn, dort wo Deutschland am lieblichsten ist, dort wo Wagner 1877 einen Monat zur Kur war und am Parsifal gearbeitet hatte. Vor der neugotischen Kirche verkündete Schlingensief über Megafon, dass er zum einen nicht über Megafon sprechen dürfe (die rheinland-pfälzische Polizei!) und zum anderen die Botschaft: "Wir fliehen nicht vor der Angst, wir ziehen nicht gegen die Angst, wir gehen mit der Angst. Volle Angst voraus! Angst ist Macht! Angst ist Sprengstoff! Werden Sie Herrscher über Ihre Angst! Errichten Sie Ihr eigenes Imperium der Angst und metzeln Sie alles und jeden nieder, der sich Ihre Ängste zunutze machen will! Sie haben das Recht, Sie haben die Kraft! Es gibt ein Grundrecht auf persönlichen Terror!" So oder so ähnlich.

Höhepunkt der Breitseite kur-architektonisches Bilderbuch-Deutschland, als das Bad Ems sich schnell erweist, soll die Villa Balmoral sein, heute
Kulturhaus, einst Wagners Logis. Frau Perriere vom Kulturhaus macht aus der Angst-Gemeinde eine Reisegruppe und fremdenführt sie durch den Ort - ein Ballsaal, die Mineralquellen, die Passanten und ein großer Lohengrin-Schwan auf der Lahn verschwammen zu einer lebendigen Installation, zu der noch die vielen Kameras, der Muezzin, eine genau in den Zeiten Wagners steckengebliebene Kunstgläubigkeit, Schlingensiefs "Habt-Angst"-Rufe, gutwillig-skeptische Passanten und eben Frau Perriere gehören, die zwar auch über Megaphon spricht, die man aber meist nicht versteht.

Und alles vor diesem Fassaden-19.-Jahrhundert. Es ist ein absurdes aber eben auch reales Neben- oder Durcheinander, das aufzulösen bis heute keine Kunsttheorie erfunden wurde. Ein Verschwimmen von Aktion und Rezeption in absoluter Ununterscheidbarkeit: Wer zuhört, gehört dazu. Wenn Schlingensief provoziert, dann die Vermischung: Der Zuschauer wird Teil der Aktion und davon lebt die Aktion. Da ist nicht nur jeder ein Künstler, da wird alles Teil von etwas, das nicht zu überschauen ist: Die Kirche der Angst. Und so erzählt ihr Verkünder allen, die es wissen wollen, gewohnt freundlich aber etwas weniger dada als sonst, was es mit der Angst und der Gemeinschaft der Terrorgeschädigten auf sich hat. Da gibt es dann viel Aufgeschlossenheit, nur den Schritt von der Angst (verständnisvolles Nicken) zum Terror (Kopfschütteln, Rückzug) will niemand mitmachen. Je ernster der Zuhörer, desto radikaler Schlingensief. Er werde von einem Notar in Frankreich per Zufallsgenerator innerhalb von sechs Monaten zu einem Anschlag aufgerufen, erklärt er einem fragenden Kellner.

In Balmoral, dem ersten Ziel, erweist sich das Wagnerzimmer als modern
renoviertes Sälchen, aus dem alles geklaut wurde, was nach 19. Jahrhundert aussah. Kein Wagnergeruch, nur die Aussicht ist echt - "Ein wunderbarer Ort für mein Soufflé." Der weitere Weg ist weit, bis nach Balduinstein soll es gehen. An diesem Tag wandern (und singen) mit: der Züricher Dramaturg Robert Koall, der eigentlich dachte, unterwegs ein paar geschäftliche Dinge mit Schlingensief besprechen zu können. Und Schorsch Kamerun, der Sänger der "Goldenen Zitronen". Er ist es, der immer wieder den Satz "Ein wunderbarer Ort für mein Soufflé" angeekelt-entzückt den überwältigenden Ausblicken entgegenhält. Offenbar schreibt er noch an seinem Stück für die Berliner Volksbühne. Auch der neutrale Beobachter von der Presse wird an diesem Tag erst zum teilnehmenden Beobachter und dann zum Kirchenmitglied. Es geht nicht anders: Nach ein paar Kilometern beginnt auch er den vorbeiradelnde, fragenden Kurgästen zu erklären, was es mit dieser Angst-Kirche auf sich hat. Wer sich in das System "Schlingensief" hineinbegibt, kommt eben nicht ungeschoren heraus. Es gibt keine Riten in dieser Kirche, es gibt keine Dogmen, schon gar keine Sakramente, aber es gibt eine Botschaft und eine unüberschaubare molluskenhafte Einverleibung alles Vorbeiziehenden.
Und es gibt den Weg, die Prozession. Schlingensief wandert weiter, der Fuß schmerzt, wo geht es hin? Immer wenn Schlingensief auf Bayreuth zu sprechen kommt, wird er noch ruhiger. Er will nichts von Skandal, Nazifahne oder der Umkremplung des Grünen Hügels wissen. Und er schwärmt: Von der Musik, die in Bayreuth alles sei - Rausch, Droge, Mittelpunkt, vom freundlichen Empfang durch die Bayreuther Musiker, den angenehm sachlichen Gesprächen mit Wolfgang Wagner. Es ist eine fast demütige Gläubigkeit, die Schlingensief erfasst hat. Er stellt sich nicht die Frage, wie er Bayreuth, sondern wie Bayreuth ihn verändern wird. Schlingensief nimmt die Wagner-Weihestätte als ein Kraftfeld wahr, in das er eingetreten ist. Die Church of Fear ist das Atrium. "Aufladung durch Entladung", sagt er immer wieder. Das sei das gleiche wie - im Parsifal - "durch Mitleid wissend". Das erschließt sich zwar nicht unbedingt, aber dass Schlingensief sich schon länger wie ein Akku durch seine Aktionen bewegt, dass er nicht nur dauernd sprudelt, sondern sich dabei auflädt, ist nicht zu übersehen. Schlingensief, das ist ein Energiespeicher, der sich seine Ladesituationen selbst baut, bei dem jeder zur Steckdose wird, aus der er Strom zieht. Genau da treffen sich die "Church of Fear", Parsifals Wissen durch Mitleid und die Vermengung von Akteur und Zuschauer. Und genau so nähert sich Schlingensief Bayreuth. Was also ist Schlingensief? Ein Egomane? Geschenkt. Ein Nomade? Wahrscheinlich. Vor allem eben doch: ein Energieströme lenkender Schamane. Heute und morgen wird die "Church of Fear" im Bockenheimer Depot ein "Abendmahl" zelebrieren. Da werden die Pfahlsitzer ausgewählt, die nächste Woche auf der Frankfurter Hauptwache sitzen. Ansonsten dürfte es kein Spektakel werden, kein Quiz 3000 und kein Atta Atta sondern - nach einer Woche Prozession - eine etwas erschöpfte, zufriedene Veranstaltung, wo gemeinsam gegessen wird. Und vielleicht wird's ja auch urchristlich.

Text: Frankfurter Rundschau vom 13.09.2003