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»DER SCHREITENDE LEIB«
Siegfried Wagner (58), Busfahrer

Bericht von der Suche nach unsanierter Geschichte

Bad Ems, charmante Kurstadt an der Lahn. Vor die Erholung hat die Eiszeit den Schweiß ge-setzt. Durch dicksten Frühnebel SCHREITET der LEIB der CHURCH of FEAR die Deutsche Li-messtraße hinauf, den bislang steilsten Anstieg seit Köln-Domplatte. In solch einer Brühe hat Parsifal den Schwan geschächtet. Umso größer die Hoffnung des Kirchenmitglieds Christoph Schlingensief, zwischen Brunnenhalle mit »Emser Kränchen«, Badeboutiquen, Kur- und Therapie-zentrum Life-Parc, Kurwaldbahn und Sauerstoff-Fintneßstudio Oxy-Parc den tumben Tor zu sichten. Ein letztes Aufbäumen des Staats-schutzes, als die 69 Wandernden den Platz vor der Kurkirche erreichen. Sein größtes Interesse gilt der Frage, ob ein Anschlag auf Kureinricht-ungen geplant sei. »Sie werden uns doch nicht für so naiv halten, Ihnen das vorher auch noch anzukündigen!«, äußert Schlingensief sein Un-verständnis. »Gutmenschen, die über die CHURCH of FEAR lachen, ignorieren wir nicht einmal. Aber Mini-Machiavellis, die die Angst-kirche für dumm verkaufen, sind inakzeptabel.« Nach dem Polizeitrauma von Neuwied ist er nun aber darum bemüht, dem Ungemach des gestrigen Tages kein neues folgen zu lassen: »Angst als Produktivkraft ist nur nutzbar, wenn man sich nicht in ihr verrennt.« Damit ist eine weitere Losung aus der Taufe gehoben, wenn Kurpfarrer Pöppel auch den Zugang zum dazu-gehörigen Becken verweigert. Er hat das Kirchenportal verbarrikadieren lassen. Einfach so abschließen kann er es nicht, da Beichttermine anstehen - und in Bad Ems, ein Ort wie ein Bühnenbild der Augsburger Puppenkiste, gibt es viel zu beichten. Stattdessen hat Pöppel, ein exilierter DDR-Theologe von der Insel Rügen, fünf Meßdiener beordert, das Eindringen von Antichristen, Anders- und Nichtgläubigen zu unterbinden. Bewundernswert, in welch vielfält-iger Weise die Amtskirche den Mißbrauch von Kindern immer wieder reformiert.


Schorsch Kamerun und Robert Koall begleiteten die 5. Etappe des »Schreitenen Leibes «

 


Mitglied Schorsch Kamerun mit der CHURCH OF FEAR unterwegs im beschaulichen Bad Ems

Auf dem Kurkirchplatz reichen sich Schlingensief und der heutige Wandergast, Schorsch Kamerun, die Hände. Offizielle Worte fallen, bevor Kamerun, Theaterhoffnung und saftigste aller goldenen Zitronen, dem Ausrichter des Frankfurter Pfahl-sitzens etwas ins Ohr flüstert. Informationen über einen bevorstehenden Anschlag? Polizei und Meßdiener werden einmal mehr Mal hellhörig. Die geheime Botschaft wird bald darauf von den Prozessionsteilnehmern übertönt. Lied der Angst, Nr. 179: »Wer jetzig Zeiten leben will«.

Wer jetzig Zeiten Leben will,
muß haben tapfers Herze.
Er hat der argen Feind so viel,
bereiten ihm groß Schmerze.
Da heißt es stehn ganz unverzagt,
in seiner blanken Wehre.
Daß sich der Feind nicht an uns wagt,
es geht um Angst und Ehre.

Am lautesten aplaudiert Frau Perrier, Direktorin des »Künstlerhauses Schloß Balmoral«. Sie ist mit einem Megafon ausgestatte, das dem der COF in nichts nachsteht und übernimmt fortan das Kommando. Ein Stadtrundgang auf Wagners Spuren. Von soviel Gastfreundschaft kann sich Restrheinland-Pfalz eine Scheibe abschneiden. Vorbei an der 370 Jahre alten »Blutbuche« macht die Gruppe Halt vor der russisch-ortho-doxen Kirche, aus Zeiten, in denen die russische Zarenfamilie sich hier noch auf ihre Ermordung vorbereitet hat. Gemeindemitglieder bieten Gemeindemitgliedern Tee und Wodka. Das an-grenzende Kurhotel, noch im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts Hort des Jetsets, liegt inzwi-schen brach. Direkt danach Einzug ins Kur-theater, in dem dereinst auch das Kurcasino gastierte. Hinein ins Innenleben der Inszenier-ung. Ein Spitzel der Kurverwaltung will den Zutritt zur Bühne verweigern, die sei »vermietet und ich rufe jetzt die Volkspolizei«. Schlingensief führt ihn zum Ausgang und zeigt ihm, wo er größte Chancen hat, einen Streifenwagen zu finden. Dann macht sich Betrübnis breit ob des Umstandes, daß Theater ihre Bühnen jetzt schon vermieten müssen. »Die letzte Vorstellung noch, dann wird die Church sämtliche Bühnen-häuser ausbomben!«. In die improvisierte Szene aus Shakespeares »Der Widerspenstigen Zähmung« hinein platzt plötzlich Nena, letzte schlappe Woge der Neuen Deutschen Welle, die sich als Mieterin des Saales zu erkennen gibt. Ihr extrem sächselnder Manager erklärt, man drehe gerade ein Video zu Nenas neuestem Aufguß für die Mitesserplantagen von Viva Plus - Nena featuring Nena: »Wunder geschehen«. Sie läßt sich die Botschaft der Angstkirche in leicht verständlichen Worten näher bringen, unterbricht daraufhin den Videodreh und schließt sich der Sightseeingtour an. Vorbei am Kurhotel »Sommersfrische« rät Frau Perrier zu einer handvoll schwefelhaltigem Wasser aus der bekannten Römerquelle. Bleifrei Auftanken. Durch den Stasispitzel vom Kurtheater in Kenntnis gesetzt, macht die Kurverwaltung eine Friedensangebot unf ruft kurzfristig den »Tag der offenen Tür« aus. Samt Wanderwagen ziehen die COF-Pilger in das verwinkelte Ver-waltungsgebäude ein, wo ihnen hinter der so-undsovielten Ecke das Kurorchester auflauert, um einen Auszug aus Parsifal zu geben. Wenig Gesang, aber massenhaft andante. COF-Mit-glied Hartmut (44), Musiklehrer aus Braun-schweig, platzt zuerst der Kragen, dann er selbst in die Vorstellung hinein. Er reißt eine Feueraxt aus der Verankerung und zertrümmert das ohnehin ausgemusterte Kurpiano. Fluxus in Bad Ems. Die offenen Wunden bekleben Perrier, Kamerun und Schlingensief anschließend mit COF-Aufklebern. Am Ausgang der Kurverwaltung das endgültige Ende der Verkrampfung: das Blumenmädchen 2003, Heike Rosemann, verteilt Rosenkränzchen an die durchwandernden Kur-gäste. Frau Perrier lädt ein zum Umtrunk auf Schloß Balmoral, einmal über die Lahn und ein-mal über die Straße. Zweiteres erweist sich als äußerst gefährlich. Schorsch Kamerun und Ignaz Mahnstein, eines von insgesamt 19 jüdischen COF-Mitgliedern, werden beinahe von einem Linienbus erfaßt, der sich mit deutlich überhöh-ter Geschwindigkeit dem Zebrastreifen näherte, in letzter Sekunde dann aber doch zum Halten kommt. Ein Bus? Ein Jude? - Ein Attentat? Nein, nicht in Bad Ems. Schlingensief stellt den Bus-fahrer zur Rede, der sich als Siegfried Wagner vorstellt und gerade völlig übermüdet die Früh-schicht beenden will. Mit dieser Namenskombi-nation hat er beim Oberhausener Opernfreund und Kirchenmitglied schon gewonnen, so daß der Vorfall nur eine Randnotiz dieser Etappe bleibt und eben deshalb auch nach ihm benannt ist.

Frau Perriere von Balmoral führt durch Bad Ems

Szene einer COF-Aufführung in Bad Ems

 

 

 

 

 

 



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Bizarrstes Bild des Tages bietet der Aufstieg zum Balmoralschloß. Vor einer Vielzahl völlig ruinierter Villen der Jahrhundertwendezeit parken ebenso vielzählig Limousinen der Extraklasse. »Das ist Luxus pur und Dekadenz zugleich. Diesen Anti-Realismus müssen wir in die COF mit einbezieh-en!« fordert Kamerun. Auf Schloß Balmoral heißen neun Kunststipendiaten aus sechs Ländern die Pilgerschaft willkommen. Dann weht ein Hauch von Geschichte durch das sanierte Gemäuer. Frau Perrier führt alle interessierten in jenes Zimmer, in dem Richard Wagner im Jahre 1877 seinen Kurauf-enthalt verbrachte. Ein ursprünglich gemütlicher, kleiner Raum, der durch Mauerdurchbrüche nun wie ein Bankettsaal wirkt. »Glauben wir den Tagebucheinträgen Cosima Wagners, dann hat Richard hier am Parsifal gearbeitet.« Schlingensief inhaliert die abgestandene Zimmerluft. Die COF-Gesandten bilden einen Kreis und gedenken dem Gesamtkunstwerker und seinen letzten Takten. Bei Kaffee und Plätzchen in der Eingangshalle, stirbt plötzlich und unerwartet Leni Riefenstahl. Schlingensief muß auf einen Stuhl geschleppt werden: »Möllemann, Wallraff, Riefenstahl, bei so vielen Ausfällen kann einem schon schwindelig werden.« Frau Perrier samt Stipendiaten grüßen vom Wagnerbalkon, als der SCHREITENDE LEIB am frühen Nacchmittag Bad Ems verläßt. »Nicht einmal hier haben wir Parsifal gefunden«, sagt ein immer noch geschwächter Schlingensief zu sich selbst. Auf dem idyllischen, aber steilen Weg entlang der Lahn macht sich Unmut breit. Sarah und Monika aus Karlsruhe, die den schwer bela-denen Wanderwagen ziehen, bemängeln den fehlenden Einsatz männlicher Pilger und verlangen nach Ablösung. Eine ursprünglich angedachte Pause auf der »Moorhütte« wird abgesagt, die Stimmung ist gereizt. »Eßt kein Brot, eßt Terror!«, versucht Schlingensief noch das Beste aus der Situation heraus zu holen. Ein denkwür-diger Tag geht bald darauf in Balduinstein zuende.