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»DER
SCHREITENDE LEIB«
Angst
als Routine
Bericht
von der Suche nach den Flugschneisen der Götter
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In
Balduinstein muß der Ur-Urenkel von Herrn Disney das nächste
Schneewittchenremake drehen, mit Iris Berben als schönste Frau
des Märchenlands, die sich mit ihren sieben Ehren-bambis längst
auf einen netten Lebensabend eingerichtet, als ein von Düsseldorfer
Neonazis verfolgter Prinz jüdischer Herkunft um Unter-schlupf
bittet. Alle Häuser des Dorfes sind ent-lang der Bahnlinie nach
Gießen aufgereiht, auch das Hotel der COF-Wanderschaft,
denen beim improvisierten Abendessen im Biergarten beinahe die Bahnschranke
in den Ruccolasalat knallt. Am nächsten Morgen orientiert sich
der SCHREI-TENDE LEIB an eben
dieser Linie, um seinen Lahnhöhenweg zu finden. Pater Isidor,
Begrün-der der Gemeinde Memmingen, schließt sich den Missionaren
an. Sein Schuhwerk, das lediglich den Gang zur Kanzel gewohnt ist,
verspricht schnell, auf dem Weg Richtung Limburg Prob-leme zu bereiten.
Pater Isidor selbst schreckt das zunächst nicht. Er hat mehr
Redemanu-skripte mit, als eine Vorlesungsreihe an irgend-einer theologischen
Fakultät verkraften könnte. Zur Einstimmung intoniert Schlingensief
»Schön ist es auf der Welt zu sein«, um nach wieder
eingekehrter Stille den philosophischen Gehalt des Ohrwurms zu erläutern:
»Roy Black sagt: Es gibt kein richtiges Leben im falschen und
um-gekehrt.« An der Lahn entlang begegnen 62 Wanderer und mindestens
genauso viele Blasen an Füßen zwei einsamen Fischern, die
die Schläfrigkeit der Hechte für sich zu nutzen wissen.
Ein erster Eimer ist bereits gefüllt, so kostet es sie wenig
Überwindung, eine prall gefüllte Gefriertüte gegen
Informationsmaterial der CHURCH of FEAR
einzutauschen. »Kommt, laßt uns Menschenfischer fischen!«,
ruft Pater Isidor zum Weitergehen auf. Seinen ledernen Koffer mit
selbst verfaßten Propagandaschriften läßt er sich
nicht abnehmen, lehnt es sogar ab, ihn auf dem Wanderwagen abzuladen.
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Ein
COF-Mitglied aus Diez begrüsst den »Schreitenen
Leib« zu Beginn der 6. Etappe
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Bei
einer Rast im Landgasthof Diez läßt sich Schlingensief
Ergebnisse einer aktuellen Umfrage des FIU-Instituts im Auftrag der
CHURCH of FEAR zufaxen. Dabei
sollten 2400 Deutsche ihre Furcht vor 15 Problemen auf einer Skala
von 1 (»gar keine Angst«) bis 7 (»sehr große
Angst«) angeben. »Deutsche haben so viel Angst wie nie
zuvor«, referiert Schlingensief und erntet dafür wenig
Verwunderung in den Gesichtern der Wanderschwestern und -brüder.
»Auf den ersten drei Plätzen liegen witschaftliche Ängste.
Das gab es doch noch nie!« Am stärksten aber habe die Angst
vor Terroranschlägen der konventionellen Politik zugenommen.
Applaus... »Immer mehr Insolvenzen, Reformstau in den Sozialsystemen
und mehr als vier Millionen Arbeitslose lassen keinen Raum für
Optimismus«, zählt das Kirchen-mitglied wesentliche Gründe
auf. Mit einem Wert von 5,09 rangiere die Angst vor einer weiteren
Verschlechterung der Wirtschaftslage auf Platz eins. Außerdem
fürchteten die Menschen den Anstieg der Lebenshaltungskosten
(5,08), »weil wir uns ein Leben halten, das nicht länger
lebenswert ist«. Beim Thema Arbeitslosigkeit (5,07) herrsche
bereits das pure Grauen: »Dieses Themas werden wir uns in Frankfurt
ganz ein-dringlich widmen«, verspricht Schlingensief. Stärker
als in den Jahren zuvor haben die wirt-schaftlichen und politischen
Probleme persönliche Sorgen in den Hintergrund gedrängt.
»Wir müssen aber lernen, eben Wirtschaft und Politik persön-lich
zu nehmen!«. Die Deutschen trauten den Politikern nichts mehr
zu, weshalb sie zur Ent-sorgung freigegeben seien. »Politik«,
so das COF-Mitglied, »bedarf
unbedingt der Befreiung von allem Politischem«. Die Angst, daß
Herr Schröder und Konsorten sich zu wenig für die Bürger
einsetzen, landete auf Platz vier (5,05), auf Platz fünf die
Terrorangst (Zwischenruf Pater Isidor: »Ein schöner Antagonismus!«),
und erst an sechster Stelle rangiert die Angst, ein Pflegefall oder
chronisch krank zu werden. Auf dem Weg nach Limburg durchzieht die
Prozession eine Wohnsiedlung. Über einem Gartentor hängt
der 78-jährige Werner B. COF-Mitglied
Schlingensief sucht nach soviel Wanderweg Bürgerkontakt und menschliche
Nähe. Er geht auf Werner B. zu und beide finden schnell die gleiche
Funkfrequenz. Schlingensief erklärt den Gedanken unter der Oberfläche
der Kirche der Angst. »Angst!«, erwidert B. beinahe empört,
»Angst hab ich mir abgewöhnt. Nach drei Herzinfarkten und
vier Ehefrauen habe ich an Angst kein Interesse mehr.« Schlingensief
kratzt an der ach so stabilen Fassade des Rentners und entlockt ihm
dann doch das Eingeständnis von Furcht und Sorge vor dem nächsten
Kollaps. »Gut, sagen wir es so, man lernt, mit der Angst zu
leben.« »Ist Angst für Sie Routine?«, verlangt
Schlingensief die ultima-tive Antwort. »Ja, das ist vortrefflich
formuliert!« Für soviel Offenheit zelebrieren Schlingensief
und Isidor eine Spontansegnung des B´schen Hauses und ernennen
den Angstroutinier Werner zum »Botschafter der Angst«. |
Limburg,
immer noch Lahn. Zwei Stunden später dringt Muezingesang durch
die verregneten Gassen. Daß der Weg zum Dom der Besteigung eines
Achttausenders gleicht, ist durchaus wörtlich zu verstehen. Kirche
macht es einem schwer, Kirche ist der Gipfel. An einer Imbiß-hütte
mit dem Namen »Futterkrippe« auf circa 3000 Meter erfolgt
eine letzte Stärkung. In Limburg ist selbst die Currywurst religios
durch-setzt. »Church of Fear«, sagt die korpulentere Dame
an den Herdplatten mit hessischem Akzent, »sowas ähnliches
steht auf den Pfef-fersäcken, die der Chef aus dem Orient be-zieht«.
Pater Isidor wittert ein unentdecktes Terrornest und fordert zum Aufbruch
auf. »Es wäre doch schade, wenn man uns so kurz vor dem
Ziel noch hochgehen läßt.« Die örtliche Polizei
ist hier wesentlich entspannter. Hessen ist nicht Rheinland-Pfalz
und Deutschland nicht gleich Deutschland. Der wachhabende Offizier
erklärt Schlingensief, in Limburg sei heute Weltfrauentag und
außerdem Domfest. »Deshalb sind wir doch hier!«,
entgegnet Schlingensief, kann der Aufforderung, die offizielle Einladung
des Weihbischofs vorzuzeigen, nicht nachkom-men. So muß der
SCHREITENDE LEIB seine volle Fahrt
vor den Stufen zum Domplatz voll abbremsen. Alles andere müsse
man, so ein Vertreter des Hausherrn, als Friedensbruch gewertet und
zur Anzeige gebracht werden. Es läutet zur 18.00 Uhr-Messe und
mit dem stän-digen Auf und Zu der Dompforte dringt Muezin-musik
in den Katholikentempel. »Jetzt wächst zusammen, was zusammen
gehört«, verkündet Pater Isidor einem Radiojournalisten
des Hes-sischen Rundfunks ins Mikrofon. Schlingensief hat sich im
großen Bogen um zwei stationierte Schupos drumherumgeschlichen
und kratzt mit einem Messer aus der COF-Küche
Löcher in die Domseitenmauer: »Flugschneisen für die
Götter«. Viele Kirchgänger machen vor der Messfeier
Station am CHURCH of FEAR-Stand
und diskutieren mit den schon leicht erschöpf-ten Pilgern über
Angst im Nahen Osten und Furchtlosigkeit im Alltagskrieg. Konfessionslose
und -fanatiker aber gehen heute abend friedlich auseinander. Letztere
zur Andacht zum Weih-bischof, erstere zum Duschen in ein Limburger
Stundenhotel. |
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