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»DER
SCHREITENDE LEIB«
Innenansichten
eines COFs
Bericht
aus dem Wandertagebuch des COF-Mitglieds und
Wanderers Thomas aus Gelsenkirchen
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Donnerstag,
11. September. Fast alle Mitwan-derer der Prozession Schreitender
Leib sind bei bester Gesundheit. Der Regisseur Christoph Schlingensief
aus der CHURCH-Gemeinde Berlin
hat einen dicken Fuß, obwohl ihm sein drittes Paar Wanderschuhe
von einem Orthopäden empfohlen wurde. Unsere Unterkunft heißt
Limburger Hof und erinnert mich ein wenig an das Nebengebäude
des Brecht-Gymnasiums in Gelsenkirchen-Horst, allerdings nach dessen
Abriß durch das städtische Bauamt. 72 Leute teilen sich
2 Duschen. Die Prozession verlangt uns auf den letzten Etappen alles
ab. Trotzdem gilt unsere erste Sorge Herrn Schlingensief. Beim Frühstück,
das für die Nacht entschädigt, zeigt er uns seinen rechten
Fuß, der geschwollen und blau-rot angelaufen ist. Bei einer
Tasse Kaffee überreden wir unseren COF-Bruder,
vor dem Weiterwandern einen Arzt aufzusuchen. Die Herbergsmutter,
die am Vorabend noch um ein Foto mit Herrn Schlingensief bat, empfiehlt
uns das St-Vincent-Hospital in Limburg-Süd. Eine Stunde später
liegt der Patient auf einem Tisch und wird von Prof.Dr. Kramm untersucht.
Er diagnostiziert einen Knochensplitter im Fußge-lenk, der das
Gehen zu Hölle macht. Für ein Röntgenbild will sich
Herr Schlingensief keine Zeit nehmen, er folgt aber dem Rat des Arztes,
sich bis zum Begleitfahrzeug auf dem Kranken-hausparkplatz in einem
Rollstuhl transportieren zu lassen. Draußen erzählt er
allen, der Arzt haben einen Bombensplitter im Fuß gefunden und
er dürfe vorerst nicht mehr laufen. Hannah aus Freiburg will
ihn trösten und streichelt ihm durch das Haar, auch wenn man
nie weiß, ob er etwas ernst meint oder nur einen Spaß
macht. Als ich gemeinsam mit Ralf versuche, ihn ins Auto zu heben,
greift mir ein Mann mit hoch-rotem Kopf in den Arm. Schlingensief
fällt schreiend zu Boden. Herr Pöppel ist der Krank-enhauspfarrer
und hat von der CHURCH OF FEAR
gelesen. Er wittert Konkurrenz und wirft Herrn Schlingensief vor,
sein Krankenhaus für eine Kunstaktion mißbraucht zu haben;
total durchgeknallt, der Typ. Er schimpft auf Schlin-gensief ein,
der mit schmerzverzerrtem Gesicht vor dem Bundeswehrbulli liegt. Als
Ralf und ich ihm aufgeholfen haben, reagiert er völlig ge-lassen
und nimmt die Entschuldigung des Pfarrers an, die der gar nicht angeboten
hatte. Religion komme doch immer zu spät, und da Pöppel
daran langsam aber sicher zerbreche, wolle er, Schlingensief, ihm
diese kleine Unbe-sonnenheit nicht nachtragen. Ich schiebe dem seelenlosen
Seelsorger den Rollstuhl zu und blicke ihn böse an. |
COF-Aktivist
Schlingensief sichtlich aufgewühlt nach Pater Isidors bewegender
Ansprache vor dem Limburger Dom
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Am
Ortsausgang warten die COF-Wanderer
und empfangen uns herzlich. Herr Schlingensief steigt sofort aus dem
Auto und eröffnet den Wander-tag. Jetzt können wir uns endlich
der historischen Tragweite des 11. Septembers widmen. Vor der Hühnerkirche
auf dem Weg nach Idstein spricht Herr Schlingensief eine Terrorwarnung
aus. Die Hühnerkirche, die eigentlich eine Gaststätte ist,
ist an diesem Nachmittag gut besucht und so findet er viele Zuhörer.
Sie bleiben beim Gang in die Wirtschaft stehen oder kommen extra heraus.
Herr Schlingensief dreht die Muezzinmusik etwas lauter und fordert
mit dem Megaphon: "Bitte miß-achten Sie die Schilys und
Stoibers, ihre Horror-szenarien und das Populistengeschwätz!
Genießen Sie die Sonne und schlafen Sie aus! Binnen sechs Monaten
erfolgt dann die Aufforderung, Ihren ganz persönlichen Terror
auszuüben." Die Wirtin der Hühnerkirche klatscht als
erste, dann serviert sie Kaffee und Pflaumenkuchen; teuer, aber sehr
lecker. |
Teilnehmer
einer Kaffeefahrt steigen aus einem Reisebus und eröffnen die
Diskussion. "Extremistenpack!" kreischt mir ein älterer
Herr mit Gehstock entgegen und versucht, zwei Pilgern das COF-Transparent
aus der Hand zu reißen. Torsten schreitet ein und Herr Schlin-gensief
erklärt ihm, wie die Verkaufsmethoden für Nierenwärmer
und Rentenversicherung zusammenhängen. Am Ende wünscht er
uns gute Wanderschaft und hat seinen Gehstock gegen ein COF-T-Shirt
eingetauscht. In Wörsdorf ein unfreiwilliger Glaubenskrieg. Der
irakische Mitarbeiter des örtlichen Garten-bauamts attackiert
unsere Musikanlage und versucht, dem Muezzin das Mundwerk zu stopfen.
Er kann sich kaum beruhigen und droht mit einer Anzeige wegen Mißbrauchs
religiöser Zeichen. "Das hat er auch mit Marilyn Manson
und Helmut Kohl schon gemacht", flüstert sein Kollege mir
ins Ohr, der sich im "heute journal" über unsere Prozession
informiert hat. Kom-munikationswissenschaftler Georg aus Münster,
Mitglied der dortigen COF-Gemeinde,
gibt zu Bedenken, Fernsehen sei und bliebe "ein Ver-blendungsapparat,
der seine Fixierung und Vorurteilsmuster bis ins innerste der Konsu-menten
transportiert". Die Prozession zieht weiter und erreicht ihr
Tagesziel, das Hessen-tagsstädtchen Idstein. Hier übernachten
wir im "Hotel Felsenkeller". Die Wirtin erzählt uns,
daß in Herrn Schlingensiefs Stube schon Roland Koch, der hessische
Ministerpräsident über-nachtet habe. Herrn Schlingensiefs
Frage, ob Koks und Prostitution dabei eine Rolle gespielt hätten,
beantwortet sie achselzuckend. Vor-sichtshalber verlegen wir unser
Abendritual in sein Zimmer und zelebrieren eine Geisteraus-treibung.
Wie immer, wenn es abends dann noch gemütlich wird, nervt Eduard
von der COF Berlin. Er will permanent
Fotos für eine Studen-tenzeitung per E-mail verschicken, hat
aber kein Notebook, geschweige denn einen Internetan-schluß.
Manche finden ihn etwas schrullig, bei den Frauen kommt er gut an.
Die COF-Küche hat noch einen
Snack zubereitet. Annemarie und Sven, die Prozessionsköche, sind
super! Gegen 3.00 Uhr gehen die meisten auf ihre Einzelzimmer. Ich
schlafe bei einer Sonder-sendung zum 100. Adorno-Geburtstag ein. Ich
bin mir sicher, daß ich von Rollstühlen träume. |
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